Mit steigender Vehemenz wird heute der Ruf nach Orientierung hörbar. Die Ansage einer »Zeitenwende« durch Bundeskanzler Olaf Scholz weckt damit gleichzeitig die Frage nach den Grundsätzen, die eine neue Orientierung ermöglichen sollte. Das gleiche gilt für die seit langem angekündigte »Energiewende«. Nun sehen wir aber, wie schwierig ein solches Unterfangen ist. Wir wollen hier nicht die politischen Hemmstricke und die wiederkehrenden Denkmuster im Detail betrachten, sondern deren Grundlage herausarbeiten.
Die kulturelle Neuzeit hat ja erstaunliche Fortschritte erzielt, deren Fundamente auf die schon von Aristoteles erforschten grundlegenden Formen des Denkens zurückgeführt werden können: Aktio und Reaktio, die Materie und die Form, der Körper und der Geist und schließlich Verstand und Vernunft waren oder sind Dinge, die unserem Denken und Handeln Orientierung geben. Was aber ist es, das diese Errungenschaften stets ins Wanken bringt? In diesem Beitrag wollen wir auf eine neue Sichtweise aufmerksam machen, die nicht nur die Wucht und Standhaftigkeit der Mauern aufzeigt, die wir zum Schutz unserer »eingefleischten« westlichen Denk- und Lebensweise aufgebaut haben. Wir sind in ein Weltbild »eingewickelt«, das unter der Maxime steht: »Die Ressourcen der Welt sind begrenzt!« Mehr noch: Historiker wie Ian Morris argumentieren sogar, dass auch unsere moderne Gesellschaft und die menschlichen Werte (Fairness, menschliche Würde) auf der Doktrin des kontinuierlichen Wachstums des Energieverbrauchs beruhen. Das impliziert von sich aus ja einen Glauben an die Begrenztheit der Ressourcen, um die es – da beziehen sich Morris und andere Ökonomen in falscher Weise auf Darwin – zu »kämpfen« gilt. Längst hat sich im Schatten dieser uns durchdringenden Haltung eine Praxis entwickelt, die Moralforscher als »Bauch first, Brain second« bezeichnen. – Ist das Leben aber tatsächlich derart auf Wachstum ausgerichtet?
Es ist entscheidend zu verstehen, wie die heutige Wissenschaft und auch die Moralforschung auf ein Weltbild bauen, in dem alles »festgelegt« bzw. determiniert ist. So wird diesem Weltbild eine umfängliche Wirkung verliehen. Gleichzeitig wird aber auch verhindert – ohne dies vielleicht bewusst zu intendieren – die in unserem Inneren anknüpfbaren Änderungs- oder »Ent-Wicklungsmöglichkeiten« zu bilden. Unser Freiheitserlebnis wird mit einem Reiter auf einem Elefanten verglichen, der sich zwar frei wähnt, aber dennoch der Steuerung des Unterbewussten (des Elefanten) bzw. deterministisch wirkenden Naturgesetzen unterliegt. Einer Analyse der Spontaneität und durch ein Unbewusstes gelenktes Moralurteil können wir zwar zuzustimmen. Uns kommt es aber darauf an, wie unser Vor-Wissen und unsere Vor-Urteile so aufgebaut werden könnten, dass dieses Framing eine »gute Orientierung« bietet. Wir befinden uns inmitten effizienter und zudem intellektuell kalibrierter »Denkrutschbahnen«, die uns immer weiter in eine Sackgasse befördern, aus der nur schwer zu entkommen ist. Genau diesen Schritt wollen wir jetzt aber gehen und zeigen, wie aus dieser »Denkrutschbahn« auch der immer weiterwachsende Energieverbrauch und sogar der Kriegt folgt.
Viele Menschen fühlen bereits eine tiefsitzende Unstimmigkeit in diesem Weltbild. Das Gewissen meldet sich, und es ist ein großer Verdienst von Immanuel Kant, dass er den Zusammenhang zwischen Freiheit und Naturgesetzlichkeit herausarbeitet. Denn der Mensch ist scheinbar in der Lage, die Naturkausalität zu verlassen und so etwas wie neue Gesetzmäßigkeiten hervorzubringen (dazu zählen Ideen, Erfindungen, Kunst etc.). Dazu bedarf es jedoch eines »Bildens«, »Fühlens« und »Gewahr-Werdens«, das gerade nicht der Naturnotwendigkeit unterliegt, sondern das wir in einem »guten Sinne« zustande bringen und dessen Missachtung unser Gewissen formt. Dies ist in unserem heutigen Weltbild nicht konsistent vorstellbar. Mehr noch: wenn dies so zutrifft, arbeiten wir tatsächlich an einer systematischen Abschaffung unseres Gewissens. Denn je weniger wir in einer emphatischen Weise die Sinnhaftigkeit unseres Tuns gewahr werden, desto weniger werden wir ein Gewissen ausbilden. Dass wir es dennoch tun, zeigt sich beispielsweise auch darin, dass der Konzern Google kürzlich seinen Leitspruch »sei nicht böse« aus dem eigenen Verhaltenskodex gelöscht hat. Die zunehmende Anzahl von Skandalen ist den Google-Nutzern natürlich bewusst – jeder von uns prägt ein Gewissen aus. Also ist es nur folgerichtig, dieses Motto aus der Erinnerungskultur des Konzerns zu streichen. Noch die Pionierzeit des Internets war durch Egalität und Fairness gekennzeichnet. Heute scheint es demnach besser, sich damit abzufinden, dass das moderne Computerzeitalter grundlegende menschliche Werte aus dem Blick verloren hat. Was läuft dabei immer wieder so grundlegend schief?
Nach den Gesetzen der Physik streben sämtliche Energie-enthaltenden Strukturen und Systeme den Zustand einer maximalen Durchmischung an. Wie hat es das Lebendige geschafft, sich diesem Sog der kontinuierlichen Durchmischung zu entziehen? Der Physiker Erwin Schrödinger hatte in seiner erstmals 1944 veröffentlichten Schrift »Was ist Leben« den Nachweis erbracht, dass jede Zelle, jeder Organismus, jedes lebende System in der Lage ist, aus Energie kontinuierlich eine innere Ordnung aufzubauen, also Strukturen und Beziehungsgefüge als »Informationen« hervorbringt, mit deren Hilfe es gelingt, dem ständig drohenden Zerfall zu begegnen. Aus der neueren Physik wissen wir, dass Lebewesen dabei eine Dimension betreten, in der sie die »Gesetze« der Physik (denen man üblicherweise eine universelle Gültigkeit zuordnet) aushebeln und Muster nach eigenem Duktus erzeugen können. Wir müssen uns dies plastisch vorstellen: Lebewesen stabilisieren sich, indem sie sich ständig selbst replizieren. Das gelingt aber nur, weil sie durch die Selbstreplikation über alle Zeiten hinweg an Mustern arbeiten, die eine gewisse »Durchmischung« bzw. »Kooperation« formen, die aber gleichzeitig auch »Information« ist – was wir als eine so bisher nicht betrachtete »Berührbarkeit« deuten.
Die Physiker arbeiten hier tatsächlich an einer gänzlich neuen Sichtweise. Im letzten Jahrhundert hatte sich die Vorstellung durchgesetzt, dass sämtliche Ereignisse dieser Welt auf »Naturgesetzen« beruhen. Dies trifft für die Gesetzte der Himmelsmechanik ziemlich genau zu. Heisenbergs Unschärferelation hat diese Annahme bereits nachhaltig erschüttert. Aber erst die neuere Physik legt nahe, dass Lebewesen eigene Geometrieformen erzeugen, die Orientierungspunkte zu potenziell neuen Struktur- und Verhaltensmustern ausprägen, die jenseits der durch klassische physikalische Gesetze beschriebenen Welt zu verorten sind. Am Beginn scheinen wenige Prinzipien zu stehen (wie das einer »Berührbarkeit«), aus denen sich dann physikalische Regularitäten »ent-wickeln«, die einen so nicht denkbaren Orientierungsrahmen abstecken. Erstaunlich dabei ist, dass dies mit minimaler oder sogar nahezu keiner Energiezufuhr, gewissermaßen als kreativer Gestaltungsakt geschieht. Alles Leben »schöpft« seine Kreativität aus dem unerschöpflichen Potential der »unbestimmten Ordnung« des hochfrequenten Sonnenlichtes und erzeugt zunehmend komplexer werdende, hochorganisierte Strukturen. Dieser Prozess ist ausgerichtet auf eine Minimierung des zur Aufrechterhaltung der Struktur und Funktion des jeweiligen lebenden Systems erforderlichen Energieaufwandes. Deshalb ist für alle Lebensformen das Energiesparen langfristig die entscheidende Voraussetzung ihres Fortbestandes. Das gilt für jede Pflanze, für jeden Ameisenstaat und auch für uns Menschen.
Damit entsteht tatsächlich die Möglichkeit, zu erkennen, dass auch unser Denken eine direkte Verbindung zu einem »Guten« aufweisen könnte: nämlich die Anteilnahe und der Aufbau von etwas, das uns stets und immer »Orientierung« gibt. Das Besondere jeder Orientierung ist ja, dass diese auf ein Jenseitiges, nie völlig Erreichbares verweist – und genau das entspricht auch der Veranlagung unserer Werte, diese sind ja im Grunde nie völlig explizierbar und erreichbar. Was ist daran aber das für uns Menschen Besondere? Sind die Menschen nicht entstanden, weil sie sich auf eine umfassende Art und Weise umeinander kümmerten und dadurch »Fairness« entwickelten? – Richtig ist wohl, dass veränderte Umweltbedingungen zu einer Veränderung der Nahrung und damit auch verbunden zum aufrechten Gang und zu einem vergrößerten Gehirn beitrugen. Die sich entwickelnde gestische Kommunikation entstand aber im Einklang mit einer »Bewertung«, die immer mehr ein umfassenderes, »wahres« Bild der Gruppe entwickelte. Die noch im Primatenreich vorherrschende einfache Hierarchie wich egalitären Strukturen. Dann geschah das außergewöhnliche, dass immer mehr die Aktivitäten von anderen der Gruppe von zunächst Unbeteiligten »beurteilt/kommentiert« wurden. Das Besondere daran ist, dass der »Beurteiler« gar nicht direkt in dem »Urteil« vorkommt und auch keinen direkten Vorteil aus seinem »Urteil« zieht. Unsere Vorfahren machten also in extremer Weise von der Möglichkeit Gebrauch, ein Bild der eigenen Gruppe aufzubauen, in dem jeder jeden auf eine Art »kannte«, die gleichzeitig seine Freiheit erhöhte (die bestand einfach darin, sich alles Mögliche auszudenken und zu »beurteilen«) und gleichzeitig aber auch die gegenseitige Verbundenheit damit zu erhöhen. Genau deshalb steigt das Kommunikationsaufkommen in einem solchen Szenario exponentiell – und genau in diesem Spannungsfeld entsteht auch die einzigartige menschliche Sprache. Erstmals entstehen »Weltbilder«, die wie Denkrutschbahnen wirken und ungeheure Fortschritte unserer Vorfahren ermöglichten. Die Neurowissenschaft hat dazu in den letzten Jahren die enorme, auf einer umfassenden »Berührungsfähigkeit« aufbauende Plastizität des menschlichen Gehirns entdeckt.
Diese im Grunde egalitär ausgerichtete Denkform wurde mit dem Ende der letzten Eiszeit und schwieriger werdenden Lebensbedingungen durch die Erfindung der Agrarkultur immer mehr in »altbekannte« hierarchische Formen überführt. Mit Verbesserung der Produktionsverhältnisse gelang es den Menschen dann auch, die sich aus dem 2. Hauptsatz der Wärmelehre ergebende Notwendigkeit zur Minimierung des eigenen Energieverbrauchs auszuhebeln. Dank ihres Verstandes haben es Menschen nicht nur geschafft, sich Energieressourcen anzueignen, die von anderen Lebewesen aufgebaut werden, sie haben auch gelernt, die in Vorzeiten geschaffenen fossilen Energiereserven anzuzapfen und für ihre Aktivitäten zu nutzen. So konnten sie es sich leisten, ihr Zusammenleben so enorm energieaufwändig zu gestalten, wie das noch heute der Fall ist: voller unnötiger Konflikte, mit Mord und Totschlag, Überfällen und Unterdrückung, ständigen Kriegen und einer Wirtschaft, die als einziges Ziel die Selbsterhaltung durch fortwährendes Wachstum anstrebt.
Wir sind derzeit Zeugen des irrwitzigen Versuchs, ein gesellschaftliches System zu stabilisieren, das seit Generationen das natürliche Grundprinzip der Minimierung des zu seiner Aufrechterhaltung erforderlichen Energieaufwandes verletzt. Die chinesische Regierung versucht das mit einer langfristig ausgelegten zentralen Steuerung sowohl der Wirtschaft wie auch der Bevölkerung. Solange es der Zentralregierung gelingt, den Zusammenhalt der Bürger mittels strenger staatlicher Überwachung und Kontrolle aufrecht zu erhalten, wird dieses Gesellschaftssystem noch eine Zeitlang funktionieren. Das von Putin verkörperte russische Modell ist zwar ähnlich angelegt, aber deutlich stärker korrumpiert und damit auch anfälliger gegenüber äußeren Störungen. Das weiß Putin offenbar, und deshalb greift er gegenwärtig zum letzten Mittel zur Stabilisierung des in Russland herrschenden Gesellschaftssystems und beschreitet den Weg der offensiven Kriegsführung.
Was kann unser westliches Gesellschaftssystem dem entgegenhalten, außer fortwährend seine moralische Überlegenheit zu betonen? Lässt sich eine mit der Verfolgung einer Vielzahl von Partikularinteressen beschäftigte und dabei immer weiter zerfallende Gesellschaft mit moralischen Appellen zusammenhalten? Im Prinzip schon, aber nur dann, wenn diese moralischen Maßstäbe in konkretes Handeln münden. Bei wie vielen Eltern, Erziehern und Lehrpersonen, bei wie vielen Unternehmern, Politikern und Lobbyisten, bei wie vielen Journalisten, Influencern und Führungspersonen ist das aber tatsächlich der Fall?
Unser derzeitiges mechanistisches Weltbild ist Ursache von Energiekrise und Krieg. Es führt zu einem verminderten Bildungs- und Einfühlungsvermögen, das sich inzwischen auch in einem Rückgang unserer Intelligenz manifestiert. Wir haben aber die Möglichkeit, die heute herrschende »Denkrutschbahn« zu verlassen, wenn wir deren Wirken besser gewahr werden und die Verbindung der Vielzahl von Menschen stärken, die dies schon verstehen.