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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ohne Kompass im Nirgendwo

Was ist eigent­lich pas­siert in der einen Woche nach der Euro­pa­wahl, bei der die SPD fast die Hälf­te ihrer Wäh­ler ver­lor und mit 15,8 Pro­zent auf dem für sie schmäh­li­chen drit­ten Platz lan­de­te? Andrea Nah­les nann­te das Ergeb­nis am Wahl­abend extrem ent­täu­schend. »Kopf hoch!« rief sie ihren Anhän­gern aber tap­fer zu; die SPD blicke selbst­be­wusst in die Zukunft. Redet so eine Par­tei­vor­sit­zen­de, die sich aus dem Staub machen will?

Ganz offen­sicht­lich woll­te die Frau an der Spit­ze der Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei Deutsch­lands als Kon­se­quenz aus der Nie­der­la­ge weder die­ses Amt noch das der Vor­sit­zen­den der SPD-Frak­ti­on im Bun­des­tag auf­ge­ben. Das hät­te nicht ihrem Natu­rell ent­spro­chen. »Ab mor­gen krie­gen sie in die Fres­se«, mein­te sie mit Blick auf den bis­he­ri­gen Koali­ti­ons­part­ner CDU/​CSU nach der Nie­der­la­ge bei der Bun­des­tags­wahl im Sep­tem­ber 2017. Da hat­te sie sich bereits auf die neue Rol­le als Oppo­si­ti­on eingestellt.

Gegen­über dem Spie­gel sag­te sie, ihre Par­tei müs­se pro­gram­ma­tisch fun­da­men­tal neue Wege gehen und dür­fe eine deut­li­che Kapi­ta­lis­mus­kri­tik nicht scheu­en. Damals stand Mar­tin Schulz an der Spit­ze der Par­tei. Der woll­te die Gro­ße Koali­ti­on fort­set­zen. Auf dem Bun­des­par­tei­tag 2018 in Bonn sprang ihm Andrea Nah­les als Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de zur Sei­te. Den Kri­ti­kern des Schwenks hielt sie ent­ge­gen: »Wir geben doch die SPD nicht auf in dem Moment, in dem wir uns ent­schei­den, mit den ande­ren zu regie­ren.« So kam es zur Fort­set­zung des Wei­ter­wursch­telns in der Gro­ßen Koali­ti­on. Eine Erneue­rung der Par­tei war damit von vorn­her­ein ausgeschlossen.

Als der Vor­sit­zen­de der Jung­so­zia­li­sten, Kevin Küh­nert, auf­griff, was Andrea Nah­les 2017 ver­spro­chen und gefor­dert hat­te, wur­de er von einem viel­stim­mi­gen Chor nie­der­ge­brüllt, auch von Sozi­al­de­mo­kra­ten. Nach der Euro­pa­wahl scho­ben sie ihm die Schuld an dem Deba­kel zu. Dabei soll­ten sie froh sein, dass es wenig­stens einen gibt, der in Erin­ne­rung ruft, was einst das Wesen der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie aus­ge­macht hat: Die erkenn­ba­re Par­tei­nah­me für die Men­schen, die ihren Lebens­un­ter­halt als abhän­gig Beschäf­tig­te bestrei­ten und deren Lebens­stan­dard dau­er­haft nur ver­bes­sert wer­den kann, wenn der gemein­sam erwirt­schaf­te­te Reich­tum halb­wegs gerecht ver­teilt wird.

Auf die­se Kern­fra­ge einer poli­ti­schen Neu­ori­en­tie­rung ver­schwen­de­ten die Betei­lig­ten an den Dia­do­chen­kämp­fen kei­nen Gedan­ken. Noch vor der ent­schei­den­den Sit­zung der Bun­des­tags­frak­ti­on und danach erst recht kühl­ten sie ihr Müt­chen an der nicht immer com­me il faut auf­tre­ten­den Frau an ihrer Spit­ze. Wäre Andrea Nah­les in einem poli­ti­schen Rich­tungs­streit in die Man­gel genom­men wor­den, hät­te sie ver­mut­lich nicht das Hand­tuch gewor­fen. Aber die­sen Streit hat es ganz offen­sicht­lich zu kei­ner Zeit gege­ben. Es blieb bei Schüs­sen aus dem Hin­ter­halt, bei Anzüg­lich­kei­ten und dum­men Bemer­kun­gen. Um den poli­ti­schen Kurs der Par­tei und wegen des Glaub­wür­dig­keits­pro­blems, mit dem die SPD seit der Agen­da­po­li­tik ihres Bun­des­kanz­lers Ger­hard Schrö­der zu kämp­fen hat, schei­nen sich die Genos­sen weni­ge Sor­gen zu machen.

Aber ist die SPD über­haupt wil­lens und in der Lage, sich pro­gram­ma­tisch zu erneu­ern? Ist sie nicht viel zu aus­ge­zehrt, als dass ihr ein neu­er Gesell­schafts­ent­wurf gelin­gen könn­te, der die Über­win­dung der Kluft zwi­schen Arm und Reich zum Ziel hat und es nicht bei einem gesi­cher­ten Min­dest­lohn und einer staat­lich abge­si­cher­ten Grund­ren­te belässt? Die bei­den barm­her­zi­gen Sama­ri­te­rin­nen Malu Drey­er und Manue­la Schwe­sig, samt dem poli­ti­schen Aus­lauf­mo­dell Thor­sten Schä­fer-Güm­bel, mach­ten als neu­es Füh­rungs­trio nicht den Ein­druck, als sei ihnen dar­an viel gele­gen. Soll­te sich Rolf Müt­zenich als Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der an das hei­ße Eisen her­an­wa­gen, ste­hen ihm schwe­re Zei­ten bevor. Ohne Kom­pass düm­pelt die SPD im Nir­gend­wo vor sich hin. Dabei ist das Elend nicht zu Ende. Das dicke Ende kommt noch, wenn im Spät­som­mer bezie­hungs­wei­se Herbst in drei ost­deut­schen Bun­des­län­dern neue Land­ta­ge gewählt wer­den und gede­mü­tig­te ehe­ma­li­ge DDR-Bür­ger ihrem Frust in der Wahl­ka­bi­ne wie­der frei­en Lauf lassen.