Die diesjährige Veranstaltung des Auschwitz-Komitees, die regelmäßig im November an die »Reichspogromnacht« vom 9. November 1938 erinnert, hatte in diesem Jahr einen besonderen Charakter: Am 10. Juli dieses Jahres war Esther Bejarano, die (Mit-)Gründerin und Vorsitzende des Komitees gestorben. Ihr Tod hatte große Anteilnahme ausgelöst. Sie war durch ihre antifaschistische Arbeit in Schulen, auf Demonstrationen, in öffentlichen Aufrufen zu großem Ansehen gelangt, das sich nicht allein in äußeren Ehrungen niederschlug. Ihre Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf hatte Massen, gerade auch von jungen Menschen, angezogen, die ihr noch nach ihrer Beisetzung über Stunden die letzte Ehre erwiesen.
Das Auschwitz-Komitee war nicht nur in Trauer, sondern auch in Sorge darüber, wie die Arbeit ohne Esther weitergehen sollte. Zwar hatte Esther schon seit langem immer wieder die Frage der Kontinuität der antifaschistischen Arbeit in den Jahren, in denen die Zeitzeugen nicht mehr leben würden, angesprochen, und sie hatte sich immer wieder auch inhaltlich dazu geäußert, unter anderem zur Frage der Verantwortung von Generationen, denen keine persönliche Schuld mehr zugerechnet werden kann. Aber die Besorgnis im Komitee war weiterhin vorhanden.
Corona tat das ihrige, um den Einschnitt in der Geschichte der »November-Veranstaltungen« des Auschwitz-Komitees zu verdeutlichen: Da die Universität Hamburg Pandemie-beding als Veranstaltungsort ausfiel, musste ein Ausweichquartier gesucht werden. Dieses fand sich auch in unmittelbarer Nähe des Campus – im »Logenhaus der Johannislogen«. Dessen Geschichte wurde gleich zu Beginn von der stellvertretenden Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees, Helga Obens, angesprochen: Nach Verbot der Freimaurer (1935) bedienten sich die Faschisten des Gebäudes, um die auf der benachbarten »Kleinen Moorweide« zusammengetriebenen Jüdinnen und Juden vor ihrer Deportation vorübergehend unterzubringen.
Der Abend bestätigte die Wahrheit der Parole, die Rolf Becker schon im Juli in seiner Trauerrede ausgegeben hatte. Sie hieß, in lateinamerikanischer Tradition: »Esther presente!« Und Esther schien leibhaftig anwesend zu sein – nicht nur auf dem großen Foto auf einer Leinwand, das die gesamte Veranstaltung begleitete: Die Lesungen aus ihren Erinnerungen durch die engen Freunde Sylvia Wempner und Rolf Becker ließen sie selbst zu Wort kommen. Rolf Becker, der mit einem Video zugeschaltet war, brachte außerdem ihre politischen Interventionen mit der Forderung, der 8. Mai müsse ein Feiertag werden, in Erinnerung.
Was sie im antifaschistischen Kampf geleistet hat, fasste Prof. Detlef Garbe (zuständig für die Gedenkstätten in Hamburg) in mehreren Punkten zusammen: Ihre Musik und ihre Gespräche in Schulen erzeugten eine Breitenwirkung, die »nach Hunderttausenden zählte«. Für die Bedeutsamkeit ihrer politischen Interventionen brachte er mehrere markante Beispiele: etwa ihre Stellungnahme dagegen, dass in das Gedenkhaus »Hannoverscher Bahnhof« die Firma Wintershall/DEA einziehe oder ihre Unterstützung der Forderungen, den Gedenkort »Stadthaus« (ehemalige Zentrale der Gestapo) ernst zu nehmen, indem er einer kommerziellen Nutzung weitgehend entzogen werde. Wichtig in historischer Hinsicht war seine Mitteilung, dass Esthers Nachlass der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg übergeben wird, so dass ihre Arbeit in Zukunft wissenschaftlich dokumentiert und gewürdigt werden kann.
Lebendig wurde Esthers Persönlichkeit dann durch die Erinnerungen ihrer Freundinnen: Peggy Parnass, inzwischen selbst in hohem Alter, betrauerte ihren Verlust und würdigte ihre Persönlichkeit und ihre Lebensleistung in schlichten Worten. Antje Kosemund, die selbst viel dazu getan hat, die »Euthanasie«-Verbrechen aufzuklären, stellte Esthers Leistung in den großen Zusammenhang von Verfolgung und Widerstand und nannte dabei viele Namen. So trug sie dazu bei, dass die Veranstaltung nicht zu einer »Personality-Show« wurde, was sicher auch nicht in Esthers Sinne gewesen wäre.
Auch sehr persönliche Eindrücke kamen nicht zu kurz: Andrea Hackbarth-Rouvel vom Auschwitz-Komitee berichtete, wie es ihr Leben veränderte, als sie Esther kennenlernte. Peggy Parnass und Norma von der Walde, Tochter von jüdischen Emigranten, schilderten typische Telefonate, die mit (berechtigten) heftigen, aber kurzen Klagen Esthers über ihre schlechte Gesundheit begannen und sich in Schilderungen ihrer nächsten Pläne im antifaschistischen Kampf fortsetzten, die immer sehr umfangreich waren. Wie hätte sie auch sonst ihren Plan, den sie immer wieder neu bekräftigte – damit nicht aufzuhören, bis es keine Nazis mehr gebe – auch erfüllen sollen?
Dazu gehörte aber auch immer wieder ihre Freude am Lachen und ihre Schlagfertigkeit: Ein Schüler hatte sie einmal gefragt, was sie tun würde, wenn ein Nazi sie auf der Straße beleidigen würde. Darauf Esther: Wenn er größer wäre als sie, würde sie einfach weitergehen, wenn er kleiner wäre als sie – wer weiß, wie klein Esther war, kann sich diesen Fall kaum vorstellen – würde sie ihm eine reinhauen. Ihr Verleger Karl-Heinz Dellwo bestätigte, wie gern sie gelacht habe, und sie hätte bestimmt auch darüber gelacht, dass er in der Eile seine vorbereitete Rede zu Hause vergessen hatte. Dass er auf diese nicht angewiesen war, bewies er umgehend. Er betonte, dass andererseits ihre »Unversöhnlichkeit« (»Mit Nazis redet man nicht«) eine Konsequenz aus ihrer Verfolgung im Faschismus war, dass Esther also, wie ich ergänzen möchte, nicht nur die freundliche alte Dame war, als die sie – z. B. in Talkshows – gern von oberflächlichen Beobachtern gesehen wurde. (Ich erinnere mich daran, wie Monika Grütters ihr gar nicht genug die Hand tätscheln konnte und anschließend Mühe hatte, gefasst zu bleiben, als Esther sich zum Thema »Palästina« äußerte.) Abschließend fasste er Esthers Wirken für das Gedenken an die Verbrechen der Nazis zusammen, indem er davon sprach, dass nunmehr der »Blick von Auschwitz aus« fehlen werde; es bleibe nur der »Blick auf Auschwitz«.
Typisch an der Veranstaltung, die insofern im übertragenen Sinne doch eine Veranstaltung »mit Esther« darstellte, waren Beiträge, die von Außenstehenden kamen: Stefan aus Henstedt-Ulzburg, einem kleinen Ort aus dem Hamburger Umland, berichtete von der skandalösen juristischen Aufarbeitung eines faschistischen Anschlags mit einem Auto auf Fußgänger sowie die Gegenöffentlichkeit der Antifa. (Esther hatte immer wieder öffentlich Stellung in solchen Fällen bezogen und hatte sich, als der Hamburger Kultursenator Brosda sich negativ über die Antifa geäußert hatte, ihm einen Offenen Brief geschrieben, der ihn schließlich zum Einlenken und vielleicht auch zum Umdenken bewegte.)
Schließlich ist noch ein Video einer Stadtteilschule aus Hamburg-Bergedorf zu erwähnen, das zeigte, wie Schülerinnen und Schüler, auch jüngere, Esthers Mahnungen – »Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah« – verstanden hatten und sie überzeugend in ihren eigenen Worten wiedergeben konnten.
Dass die Veranstaltung »ohne Esther« stattfand und doch in ihrer Anwesenheit, wurde nach der Pause deutlich, als das obligate Konzert von »Microphone Mafia« stattfand. Zuletzt hatte die »Rap«-Band aus Esther, ihrem Sohn Joram und Kutlu Yurtseven bestanden. Als die Band »ohne Esther« zugleich »mit Esther« (deren Stimme eingespielt war), auftrat, nahm ich den Kontrast zwischen der optischen Lücke und der akustischen Präsenz für mich anfangs so wahr, als ob Kinder ohne die Mutter und Großmutter allein zu Haus wären.
Aber es gelang Joram und Kutlu durch das Aufrufen von Erinnerungen, die gefühlte Leere zu füllen. Das Publikum ging begeistert mit, ob nun »Wann geht der Himmel auch für mich wieder auf« (auf Kölsch, das Esther laut Kutlu »extra neu gelernt« habe) oder »Bella ciao« gespielt wurde. Ohne dass ein Wort über seine Bedeutung für Esthers Leben verloren werden musste, wurde der Schlager »Bel ami« gespielt. (Dieses Lied, das sie als »Bewerbung« für das »Mädchenorchester von Auschwitz« auf dem Akkordeon hatte spielen müssen, hatte ihr das Leben gerettet. Sie hat dieses Lied seit ihrer Befreiung zum ersten Mal bei der November-Veranstaltung des Auschwitz-Komitees im Jahre 2018 gespielt; siehe Ossietzky 23/2018.) Keine Frage, dass das Konzert, wie zuletzt immer, mit dem Lied aus dem Ghetto von Wilna »Mir lebn ejbig« endete und das Publikum stehend mitsang.
Wie wird es weitergehen, ohne Esther? Auf jeden Fall hat diese Veranstaltung dem Auschwitz-Komitee Zuversicht gegeben, dass es – leider ohne Esther – weitergehen wird. Sie hat nicht nur ein Vermächtnis und einen Auftrag, sondern auch ein lebendiges Beispiel hinterlassen.