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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ohne Esther

Die dies­jäh­ri­ge Ver­an­stal­tung des Ausch­witz-Komi­tees, die regel­mä­ßig im Novem­ber an die »Reichs­po­grom­nacht« vom 9. Novem­ber 1938 erin­nert, hat­te in die­sem Jahr einen beson­de­ren Cha­rak­ter: Am 10. Juli die­ses Jah­res war Esther Beja­ra­no, die (Mit-)Gründerin und Vor­sit­zen­de des Komi­tees gestor­ben. Ihr Tod hat­te gro­ße Anteil­nah­me aus­ge­löst. Sie war durch ihre anti­fa­schi­sti­sche Arbeit in Schu­len, auf Demon­stra­tio­nen, in öffent­li­chen Auf­ru­fen zu gro­ßem Anse­hen gelangt, das sich nicht allein in äuße­ren Ehrun­gen nie­der­schlug. Ihre Beer­di­gung auf dem Jüdi­schen Fried­hof in Ham­burg-Ohls­dorf hat­te Mas­sen, gera­de auch von jun­gen Men­schen, ange­zo­gen, die ihr noch nach ihrer Bei­set­zung über Stun­den die letz­te Ehre erwiesen.

Das Ausch­witz-Komi­tee war nicht nur in Trau­er, son­dern auch in Sor­ge dar­über, wie die Arbeit ohne Esther wei­ter­ge­hen soll­te. Zwar hat­te Esther schon seit lan­gem immer wie­der die Fra­ge der Kon­ti­nui­tät der anti­fa­schi­sti­schen Arbeit in den Jah­ren, in denen die Zeit­zeu­gen nicht mehr leben wür­den, ange­spro­chen, und sie hat­te sich immer wie­der auch inhalt­lich dazu geäu­ßert, unter ande­rem zur Fra­ge der Ver­ant­wor­tung von Gene­ra­tio­nen, denen kei­ne per­sön­li­che Schuld mehr zuge­rech­net wer­den kann. Aber die Besorg­nis im Komi­tee war wei­ter­hin vorhanden.

Coro­na tat das ihri­ge, um den Ein­schnitt in der Geschich­te der »Novem­ber-Ver­an­stal­tun­gen« des Ausch­witz-Komi­tees zu ver­deut­li­chen: Da die Uni­ver­si­tät Ham­burg Pan­de­mie-beding als Ver­an­stal­tungs­ort aus­fiel, muss­te ein Aus­weich­quar­tier gesucht wer­den. Die­ses fand sich auch in unmit­tel­ba­rer Nähe des Cam­pus – im »Logen­haus der Johan­nis­lo­gen«. Des­sen Geschich­te wur­de gleich zu Beginn von der stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den des Ausch­witz-Komi­tees, Hel­ga Obens, ange­spro­chen: Nach Ver­bot der Frei­mau­rer (1935) bedien­ten sich die Faschi­sten des Gebäu­des, um die auf der benach­bar­ten »Klei­nen Moor­wei­de« zusam­men­ge­trie­be­nen Jüdin­nen und Juden vor ihrer Depor­ta­ti­on vor­über­ge­hend unterzubringen.

Der Abend bestä­tig­te die Wahr­heit der Paro­le, die Rolf Becker schon im Juli in sei­ner Trau­er­re­de aus­ge­ge­ben hat­te. Sie hieß, in latein­ame­ri­ka­ni­scher Tra­di­ti­on: »Esther pre­sen­te!« Und Esther schien leib­haf­tig anwe­send zu sein – nicht nur auf dem gro­ßen Foto auf einer Lein­wand, das die gesam­te Ver­an­stal­tung beglei­te­te: Die Lesun­gen aus ihren Erin­ne­run­gen durch die engen Freun­de Syl­via Wemp­ner und Rolf Becker lie­ßen sie selbst zu Wort kom­men. Rolf Becker, der mit einem Video zuge­schal­tet war, brach­te außer­dem ihre poli­ti­schen Inter­ven­tio­nen mit der For­de­rung, der 8. Mai müs­se ein Fei­er­tag wer­den, in Erinnerung.

Was sie im anti­fa­schi­sti­schen Kampf gelei­stet hat, fass­te Prof. Det­lef Gar­be (zustän­dig für die Gedenk­stät­ten in Ham­burg) in meh­re­ren Punk­ten zusam­men: Ihre Musik und ihre Gesprä­che in Schu­len erzeug­ten eine Brei­ten­wir­kung, die »nach Hun­dert­tau­sen­den zähl­te«. Für die Bedeut­sam­keit ihrer poli­ti­schen Inter­ven­tio­nen brach­te er meh­re­re mar­kan­te Bei­spie­le: etwa ihre Stel­lung­nah­me dage­gen, dass in das Gedenk­haus »Han­no­ver­scher Bahn­hof« die Fir­ma Wintershall/​DEA ein­zie­he oder ihre Unter­stüt­zung der For­de­run­gen, den Gedenk­ort »Stadt­haus« (ehe­ma­li­ge Zen­tra­le der Gesta­po) ernst zu neh­men, indem er einer kom­mer­zi­el­len Nut­zung weit­ge­hend ent­zo­gen wer­de. Wich­tig in histo­ri­scher Hin­sicht war sei­ne Mit­tei­lung, dass Esthers Nach­lass der For­schungs­stel­le für Zeit­ge­schich­te in Ham­burg über­ge­ben wird, so dass ihre Arbeit in Zukunft wis­sen­schaft­lich doku­men­tiert und gewür­digt wer­den kann.

Leben­dig wur­de Esthers Per­sön­lich­keit dann durch die Erin­ne­run­gen ihrer Freun­din­nen: Peg­gy Par­nass, inzwi­schen selbst in hohem Alter, betrau­er­te ihren Ver­lust und wür­dig­te ihre Per­sön­lich­keit und ihre Lebens­lei­stung in schlich­ten Wor­ten. Ant­je Kose­mund, die selbst viel dazu getan hat, die »Euthanasie«-Verbrechen auf­zu­klä­ren, stell­te Esthers Lei­stung in den gro­ßen Zusam­men­hang von Ver­fol­gung und Wider­stand und nann­te dabei vie­le Namen. So trug sie dazu bei, dass die Ver­an­stal­tung nicht zu einer »Per­so­na­li­ty-Show« wur­de, was sicher auch nicht in Esthers Sin­ne gewe­sen wäre.

Auch sehr per­sön­li­che Ein­drücke kamen nicht zu kurz: Andrea Hack­barth-Rou­vel vom Ausch­witz-Komi­tee berich­te­te, wie es ihr Leben ver­än­der­te, als sie Esther ken­nen­lern­te. Peg­gy Par­nass und Nor­ma von der Wal­de, Toch­ter von jüdi­schen Emi­gran­ten, schil­der­ten typi­sche Tele­fo­na­te, die mit (berech­tig­ten) hef­ti­gen, aber kur­zen Kla­gen Esthers über ihre schlech­te Gesund­heit began­nen und sich in Schil­de­run­gen ihrer näch­sten Plä­ne im anti­fa­schi­sti­schen Kampf fort­setz­ten, die immer sehr umfang­reich waren. Wie hät­te sie auch sonst ihren Plan, den sie immer wie­der neu bekräf­tig­te – damit nicht auf­zu­hö­ren, bis es kei­ne Nazis mehr gebe – auch erfül­len sollen?

Dazu gehör­te aber auch immer wie­der ihre Freu­de am Lachen und ihre Schlag­fer­tig­keit: Ein Schü­ler hat­te sie ein­mal gefragt, was sie tun wür­de, wenn ein Nazi sie auf der Stra­ße belei­di­gen wür­de. Dar­auf Esther: Wenn er grö­ßer wäre als sie, wür­de sie ein­fach wei­ter­ge­hen, wenn er klei­ner wäre als sie – wer weiß, wie klein Esther war, kann sich die­sen Fall kaum vor­stel­len – wür­de sie ihm eine rein­hau­en. Ihr Ver­le­ger Karl-Heinz Dell­wo bestä­tig­te, wie gern sie gelacht habe, und sie hät­te bestimmt auch dar­über gelacht, dass er in der Eile sei­ne vor­be­rei­te­te Rede zu Hau­se ver­ges­sen hat­te. Dass er auf die­se nicht ange­wie­sen war, bewies er umge­hend. Er beton­te, dass ande­rer­seits ihre »Unver­söhn­lich­keit« (»Mit Nazis redet man nicht«) eine Kon­se­quenz aus ihrer Ver­fol­gung im Faschis­mus war, dass Esther also, wie ich ergän­zen möch­te, nicht nur die freund­li­che alte Dame war, als die sie – z. B. in Talk­shows – gern von ober­fläch­li­chen Beob­ach­tern gese­hen wur­de. (Ich erin­ne­re mich dar­an, wie Moni­ka Grüt­ters ihr gar nicht genug die Hand tät­scheln konn­te und anschlie­ßend Mühe hat­te, gefasst zu blei­ben, als Esther sich zum The­ma »Palä­sti­na« äußer­te.) Abschlie­ßend fass­te er Esthers Wir­ken für das Geden­ken an die Ver­bre­chen der Nazis zusam­men, indem er davon sprach, dass nun­mehr der »Blick von Ausch­witz aus« feh­len wer­de; es blei­be nur der »Blick auf Ausch­witz«.

Typisch an der Ver­an­stal­tung, die inso­fern im über­tra­ge­nen Sin­ne doch eine Ver­an­stal­tung »mit Esther« dar­stell­te, waren Bei­trä­ge, die von Außen­ste­hen­den kamen: Ste­fan aus Hen­stedt-Ulz­burg, einem klei­nen Ort aus dem Ham­bur­ger Umland, berich­te­te von der skan­da­lö­sen juri­sti­schen Auf­ar­bei­tung eines faschi­sti­schen Anschlags mit einem Auto auf Fuß­gän­ger sowie die Gegen­öf­fent­lich­keit der Anti­fa. (Esther hat­te immer wie­der öffent­lich Stel­lung in sol­chen Fäl­len bezo­gen und hat­te sich, als der Ham­bur­ger Kul­tur­se­na­tor Bros­da sich nega­tiv über die Anti­fa geäu­ßert hat­te, ihm einen Offe­nen Brief geschrie­ben, der ihn schließ­lich zum Ein­len­ken und viel­leicht auch zum Umden­ken bewegte.)

Schließ­lich ist noch ein Video einer Stadt­teil­schu­le aus Ham­burg-Ber­ge­dorf zu erwäh­nen, das zeig­te, wie Schü­le­rin­nen und Schü­ler, auch jün­ge­re, Esthers Mah­nun­gen – »Ihr habt kei­ne Schuld an die­ser Zeit. Aber ihr macht euch schul­dig, wenn ihr nichts über die­se Zeit wis­sen wollt. Ihr müsst alles wis­sen, was damals geschah. Und war­um es geschah« – ver­stan­den hat­ten und sie über­zeu­gend in ihren eige­nen Wor­ten wie­der­ge­ben konnten.

Dass die Ver­an­stal­tung »ohne Esther« statt­fand und doch in ihrer Anwe­sen­heit, wur­de nach der Pau­se deut­lich, als das obli­ga­te Kon­zert von »Micro­pho­ne Mafia« statt­fand. Zuletzt hat­te die »Rap«-Band aus Esther, ihrem Sohn Jor­am und Kut­lu Yurts­even bestan­den. Als die Band »ohne Esther« zugleich »mit Esther« (deren Stim­me ein­ge­spielt war), auf­trat, nahm ich den Kon­trast zwi­schen der opti­schen Lücke und der aku­sti­schen Prä­senz für mich anfangs so wahr, als ob Kin­der ohne die Mut­ter und Groß­mutter allein zu Haus wären.

Aber es gelang Jor­am und Kut­lu durch das Auf­ru­fen von Erin­ne­run­gen, die gefühl­te Lee­re zu fül­len. Das Publi­kum ging begei­stert mit, ob nun »Wann geht der Him­mel auch für mich wie­der auf« (auf Kölsch, das Esther laut Kut­lu »extra neu gelernt« habe) oder »Bel­la ciao« gespielt wur­de. Ohne dass ein Wort über sei­ne Bedeu­tung für Esthers Leben ver­lo­ren wer­den muss­te, wur­de der Schla­ger »Bel ami« gespielt. (Die­ses Lied, das sie als »Bewer­bung« für das »Mäd­chen­or­che­ster von Ausch­witz« auf dem Akkor­de­on hat­te spie­len müs­sen, hat­te ihr das Leben geret­tet. Sie hat die­ses Lied seit ihrer Befrei­ung zum ersten Mal bei der Novem­ber-Ver­an­stal­tung des Ausch­witz-Komi­tees im Jah­re 2018 gespielt; sie­he Ossietzky 23/​2018.) Kei­ne Fra­ge, dass das Kon­zert, wie zuletzt immer, mit dem Lied aus dem Ghet­to von Wil­na »Mir lebn ejbig« ende­te und das Publi­kum ste­hend mitsang.

Wie wird es wei­ter­ge­hen, ohne Esther? Auf jeden Fall hat die­se Ver­an­stal­tung dem Ausch­witz-Komi­tee Zuver­sicht gege­ben, dass es – lei­der ohne Esther – wei­ter­ge­hen wird. Sie hat nicht nur ein Ver­mächt­nis und einen Auf­trag, son­dern auch ein leben­di­ges Bei­spiel hinterlassen.