Kapitän Louis sitzt fast regungslos am Bug des Kajaks und lässt seine Blicke aufmerksam in die idyllische Umgebung schweifen. Okay, er steuert den fahrbaren Untersatz natürlich nicht selbst, aber seine natürliche Autorität lassen gar keine Zweifel daran aufkommen, dass er der Chef der Expedition ist. Der circa fünfjährige Maine Coone-Kater Louis, einst ein heimatloser Streuner, dem zwei tierliebende Frauen Asyl gewährten, lebt in einem sehr wasserreichen Teil von Berlin, wo er ein großes Holzhaus mit Garten direkt am Wasser bewohnt. Die genaue Adresse des Katers im Bezirk Spandau muss geheim bleiben, denn auch unter seinen zahlreichen Fans könnte es Stalker geben. Das Ufer ist zum Greifen nahe, das Kajak hat dort angelegt und ist immer für den mit zehn Kilo sehr stattlichen Kater fahrbereit, auch bei winterlichen Temperaturen.
Die ganze Aktion ist nicht ganz sinnfrei, denn Louis ist Internetstar, hipper gesagt: Er ist influencer. Seine Facebook-Seite haben mittlerweile über 163.100 Follower abonniert, zudem ist er Model, Markenbotschafter und Produkttester. Die Menschen, die dem Kater zuarbeiten dürfen, bleiben dabei anonym und agieren im Hintergrund. Daher weiß man auch nicht so genau, wie es dazu kam, dass vor allem amerikanische Fans, die wahrscheinlich noch nicht einmal wissen, wo Brandenburg liegt oder wie man das buchstabiert, zu fanatischen Louis-Verehrern wurden. Sie sind jedenfalls zahlreich vertreten und mit Begeisterung virtuell mit an Bord, wenn Louis mal wieder unterwegs ist. Haben mit ihm gelitten, als er einmal aus Versehen ins Wasser fiel und mit jugendlicher Frische in Windeseile wieder ans rettende Ufer sprang, sich ganz kurz schüttelte und geschäftig davoneilte, als wäre nichts gewesen. Sie erschraken auch kurz, als Louis neulich abrupt ins Haus stürmte, weil der im Garten zu Besuch weilenden Füchsin spontan der Sinn nach einer kurzen, freundschaftlichen Verfolgungsjagd stand. Auch diese Situation meisterte Louis bewundernswert gelassen. Die Füchsin kennt er sowieso schon länger und ihren jüngsten Nachwuchs mittlerweile auch, der sich längst auch in Louis’ Gartenreich heimisch fühlt. Fakt ist, auch diese Füchsin und der Rest ihrer Gang kommen dem Großstadt-Menschen immer näher. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 10.000 Füchse im Berliner Stadtraum unterwegs sind. Und sie werden immer dreister, weil sie wissen, dass ihnen niemand nach dem Leben trachtet. Dann besetzen sie schon mal ziemlich frech den Liegestuhl im Garten und denken gar nicht daran, ihren Platz zu räumen, schon gar nicht für einen Kater.
Manchmal liegt Louis aber auch einfach nur so da und ruht meditativ in sich, während die immer fluchtbereite Füchsin in nicht allzu großer Entfernung herumlungert. Louis hingegen, der Buddha aller Katzen, sieht dann immer so aus, als könne ihn nichts erschüttern. Oft sitzen Kater und Fuchs fast wie buddies – mit einem perfekt einstudierten Corona-Sicherheitsabstand – einträchtig beieinander, als würden sie auf irgendetwas warten. Das mag mit Leckerlis zu tun haben, wobei Louis hoffen darf, die Füchsin jedoch nicht, denn sie zu füttern, ist laut Landesjagdrecht verboten.
Nun ist es durchaus berechtigt zu fragen, welches Ziel Louis mit seiner unermüdlichen Arbeit eigentlich verfolgt, welche Vision er hat. Seine Kajakfahrten unweit von Berlin, vielleicht auch schon in Brandenburg – die Grenzen sind auch hier fließend – könnten glatt als meditative Übungen für gestresste Städter durchgehen, die dafür sicher opulente Summen bezahlen würden. Aber Kater und Kommerz passen eigentlich nicht so wirklich zum Öko-Thema, und es könnte die Gefahr bestehen, dass er zum American Kitsch-Kater mutiert. Mittlerweile kann man sein katerliches Konterfei in allen möglichen Posen samt neckischer Hüte in diversen Designs und Rahmungen käuflich erwerben, und irgendwo auf der Welt laufen nun Menschen in T-Shirts mit Berliner Fuchsmotiv herum. Um Louis’ Homepage zu lesen, muss man der englischen Sprache mächtig sein, die Preise sind in Dollar ausgewiesen, die Zielgruppe ist somit klar definiert. Wenn die Corona-Pandemie irgendwann einmal wirklich vorbei sein sollte, könnte es durchaus sein, dass sich vor allem amerikanische Staatsbürger auf den langen Weg nach Berlin machen, um die Natur zu suchen, die Louis täglich vor der Haustür hat. So kann er durchaus als eine Art Berlin-Botschafter durchgehen, auch wenn Michael Müller noch nicht bei ihm angeklopft hat, um ihn auch offiziell in seinem Amt zu vereidigen. Vor allem im fernen Amerika erregt der inoffizielle Beamte Aufsehen, weil die Leute wohl keine so wirkliche Vorstellung von Berlin haben und nicht glauben können, dass es da außer Beton noch etwas anderes geben könnte. Mittlerweile spendet der grüne Louis 1 Euro pro T-Shirt-Verkauf aus seiner aktuellen »Mode-Kollektion« an Greenpeace. Der Kater ist nämlich wild entschlossen, den Menschen den grünen Weg zu weisen, um ihnen ein Bewusstsein für die positive Wirkung der Natur auf die Gesundheit zu vermitteln, damit sie ihren Wert und ihre Schönheit mehr zu schätzen lernen. Und er will den Menschen mit seinen Expeditionen Freude bereiten und dabei Umweltschutz und Tierwohl in den Vordergrund stellen. Er möchte aber auch zeigen, dass man nicht bis an das andere Ende der Welt reisen muss, um Natur intensiv zu erfahren, vor allem wenn man in Berlin lebt, das an Wasser reich gesegnet ist. Und dazu braucht Louis keine Worte, was sowieso schlecht funktionieren würde, es reichen seine Präsenz, ein Kajak, eine Kamera und die Natur. Sanft gleitet das Boot durch die ehemalige Auenlandschaft, die Vögel zwitschern frenetisch, man sieht ein Schwanenpaar mit Nachwuchs am Ufer, hört das Plätschern des Wassers, schaut in den blauen Himmel und in das frische Grün am Weg, das die leuchtenden Farben des gerade unbeweglich im Baum sitzenden Eisvogels komplettiert. Fünf Minuten reichen, um als Kurzerholung für den Betrachter zu dienen, der oft tatsächlich von brutalem Beton umzingelt ist, der klaustrophobisch immer näher rückt. Und weil Louis das selber nicht so gut kann, hat er seinen Menschen dann auch in einem Crash-Kurs beigebracht, wie sie am besten den zahlreichen Plastikmüll aus den Kanälen fischen, den andere achtlos dort hineinbefördert haben. Eigentlich schade, dass Louis nicht sprechen kann, denen würde er so richtig was erzählen. Und wenn das alles nicht hilft, seine ausgefahrenen Krallen sprechen lassen. Obwohl er ja eigentlich ein sanftes Wesen ist.