Auf der Rätselseite unserer Tageszeitung steht ein »Pyramidenrätsel«, mit einem Kästchen an der Spitze und sieben am Fuß der Pyramide. Die Wörter der nächstgrößeren Stufe müssen immer aus den Buchstaben des vorhergegangenen Wortes unter Hinzufügung eines neuen Buchstaben gebildet werden, heißt es in der Anleitung. Probieren wir es aus, zum Beispiel mit dem Wort Traumland. Wenn wir diesem an der passenden Stelle den Buchstaben A hinzufügen, erhalten wir ein neues Wort: das Traumaland.
Deutschland. Erst ein Traumland, ein Land, in dem sich nach jenem Oktobertag des Jahres 1990 lang gehegte Träume zu erfüllen schienen, inzwischen aber ein Traumaland – oder zumindest auf dem Weg dahin? 50 Autorinnen und Autoren aus Ost- und Westdeutschland, aus Frankreich, Österreich, Aserbaidschan, Südkorea, den USA, der Ukraine und dem Iran ließen sich unter der kundigen Führung von Franziska Richter aus dem Referat »Demokratie, Gesellschaft & Innovation« der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Nachdenken über Deutschland animieren, begaben sich auf eine Gedanken-Reise, um zu erforschen und zu erkunden, wie es 30 Jahre nach dem Zusammenschluss um Identität und Zusammenhalt in Ost und West steht. Heraus kam eine auch ästhetisch ansprechende Anthologie, hochwertig gedruckt, denn die Initiatoren wollten auch »die Kraft der Kunst [nutzen], um bisher Ungesagtes an die Oberfläche zu bringen und neue Zusammenhänge sichtbar zu machen«.
Zu diesem Zweck wird jeder Beitrag mit einem Kunstwerk eröffnet. Die Autorinnen und Autoren hatten bei der Auswahl freie Hand, und so werden Fotografien, Gemälde, Zeichnungen, Collagen, Abbildungen von Raum- und Video-Installationen, Plakate, Buchtitel, Postwertzeichen, Skulpturen, eine Karikatur, eine Aufnahme von einer Theateraufführung, eine Bronze-Büste, eine Postkarte und ein Grafitto zum Ausgangspunkt von Reflexionen oder zu deren Illustration. Bemerkenswert für ein Buch zu dieser Thematik.
Da eröffnet zum Beispiel das Gemälde »Peter im Tierpark« des Malers Harald Hakenbeck aus dem Jahr 1960, das in der DDR überall in Kindergärten und Schulen hing, den Text über das gesellschaftliche Engagement der Ostdeutschen im Spiegel der Generationen. Da soll »Die Umerziehung der Vögel« (1977) von Hans-Hendrik Grimmling zu der Erkenntnis hinführen, dass demokratische Gesinnung auch eine Frage praktischer Erfahrung ist. Wolfgang Mattheuer ist mit seiner Bronzeplastik »Der Jahrhundertschritt« (1984) vertreten, als Vorsatz des Essays über »Vergangenheiten, die drohen, nicht zu vergehen«.
Als Titelbild und zur Versinnbildlichung ihres Vorwortes hat die Herausgeberin Franziska Richter die Fotografie »An der Museumsinsel« (1972) ihrer Tante ausgewählt, der 1930 in Bautzen geborenen Fotografin Evelyn Richter. Das auf der Brücke der Friedrichsstraße über die Spree entstandene Foto zeigt einen Mann und ein Kind am Ufer, zu einem Lastkahn in der Flussmitte blickend, der in Richtung Havel fährt, die später in die Elbe mündet und noch viel später im Nachbarstaat Bundesrepublik in das große ferne, damals unerreichbare Meer.
Das Spektrum der überwiegend aus den neuen Ländern kommenden Autorinnen und Autoren ist breit gestreut – vertreten sind Wissenschaft und Politik, Publizistik und Kunst. Zu den bundesweit bekannteren gehören Daniela Kolbe, seit dem 22. Januar stellvertretende Vorsitzende des DGB-Bezirks Sachsen; Martin Dulig, Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr in Sachsen und Ostbeauftragter der Bundes-SPD; Theresa Keilhacker, seit 2021 Präsidentin der Architektenkammer Berlin; Karamba Diaby, SPD-MdB, Direktkandidat im Wahlkreis Halle; Andreas Richter, früherer Direktor des Deutschen Symphonieorchesters und vormaliger Intendant des Mahler Chamber Orchestra; Tanja Dückers, Schriftstellerin und Publizistin.
Das Buch rubriziert die Beiträge in vier Kapitel. In Kapitel I – »Wo kommen wir her und wo stehen wir?« – werden die deutsch-deutschen Beziehungen vor 1989, die Wege zur Deutschen Einheit und deren heutiger Stand sowie die bisherigen Transformationserfahrungen reflektiert. – Kapitel II ist »Wohin möchten wir?« überschrieben. Die sozio-ökonomische und ökologische Zeitenwende, die soziale Gerechtigkeit und die Potenziale Ostdeutschlands stehen hier im Mittelpunkt. – Kapitel III fragt »Wie wollen wir miteinander leben?« Themen sind die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Identitäten von Ost- und Westdeutschen, Fragen der Toleranz und Vielfalt in der Gesellschaft, der Partizipation in einer Demokratie, des Umgangs mit dem zunehmenden Rechtsextremismus, Populismus und der Fremdenfeindlichkeit. – Kapitel IV blickt in die Zukunft: »Was wollen wir mitnehmen?« An Geschichte, Erinnerungen, Verbindungen zwischen Ost und West?
In diesem Kapitel findet ein Text meine besondere Aufmerksamkeit: »Die Leere nach dem Sturm« von Matthias Platzeck, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg, und von Thomas Kralinski, vormals Chef der Staatskanzlei in Brandenburg, korrespondiert er doch mit meinem Beitrag über die Kraft sinnstiftender Erzählungen in Ossietzky 5/2022 (S. 162, »Von der Hand zum Mund«). Dort war zu lesen: »Wir erzählen einander und uns selbst, was die wahrscheinlichste und was die wünschenswerte Zukunft ist. Und wie aus der Letzteren die Erstere wird.«
Ganz in diesem Sinne postulieren auch Platzeck und Kralinski »die Notwendigkeit, sich gegenseitig Geschichte und Geschichten zu erzählen«. Ich füge hinzu: und dabei einander zuzuhören, zum Beispiel der Erzählung von der »dreifachen Leere« (Platzeck und Kralinski), die viele Ostdeutsche trotz aller unbestreitbaren Errungenschaften nach all den gemeinsamen Jahrzehnten immer noch fühlen.
Gemeint ist zum einen die große Leere in den »neuen« Bundesländern. Über drei Millionen sind seit 1989 in die alten Länder abgewandert. All diese »Menschen fehlen heute – und zwar nicht nur als aktive Mitglieder der Gesellschaft, als Kommunalpolitikerin, als freiwillige Feuerwehrleute, als Künstlerin, als Fachkraft oder Unternehmer. Sie fehlen vor allem in den Familien, bei der Eltern- und Großelterngeneration, die sich Sorgen um ihre Lebensqualität im Alter machen«, schreiben die Autoren.
Zum anderen: Es fehlt den Ostdeutschen »an Sichtbarkeit. Ostdeutsche sind in den Führungsetagen von Wirtschaft und Wissenschaft, von Justiz, Medien oder Armee selten oder gar nicht angekommen«. Sichtbare Repräsentation schaffe jedoch Verbundenheit und Vertrauen und wirke somit einer Demokratie- oder Medien-Skepsis entgegen. Und ebenso dem Gefühl, Ostdeutsche seien Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse.
Als dritte Leere benennen Platzeck und Kralinski die fehlende Orientierung. Die großen Ziele der Friedlichen Revolution vom Herbst 1989 seien verflogen. Der Aufbau Ost habe sich immer mehr als ein in vielen Teilen seelenloses Kopieren des »alten Westens« entpuppt, »fast ohne eigene Innovationen, ohne bekannte Ankerpunkte und Haltegriffe in stürmischen Zeiten«. Daher gehe es bei den zukünftigen Transformationen »nicht nur darum, die Köpfe der Menschen zu erreichen, auch Herz und Bauch müssen mitkommen können«.
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Das Schiff, das 1972 spreeabwärts fuhr und dem der Mann und das Kind hinterherschauten, trug einen sehnsuchtsvollen Namen am Bug. Es hieß Traumland. Schon damals lebten die Menschen unter einem »geteilten Himmel« (Christa Wolf, 1963).
Franziska Richter (Hg.) Traumaland. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2021, 324 S., 22 €. – Das Landesbüro Niedersachsen der Friedrich-Ebert-Stiftung lädt für Donnerstag, 24. März, 19 bis 20.30 Uhr, zu einer Online-Veranstaltung mit ausgewählten Autorinnen und Autoren und der Herausgeberin des Buches ein. Zugang über die Homepage des Landesbüros oder des Verlags.