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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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No-Deal-Brexit?

Nach­dem The­re­sa May am 24. Mai ihren Rück­tritt vom Amt als Par­tei­che­fin der Con­ser­va­ti­ve Par­ty und Pre­mier­mi­ni­ste­rin ver­kün­det hat­te, dau­er­te es bis zum 23. Juli, bis ihr Nach­fol­ger gekürt wer­den konn­te. Es war kein gerin­ge­rer als der Brexit-Dog­ma­ti­ker Boris John­son, der mit deut­li­chem Vor­sprung die Urwahl über den Par­tei­vor­sitz gewann – sei­nem Mit­be­wer­ber Jere­my Hunt blieb nur die hilf­lo­se Twit­ter-Nach­richt: »Sie wer­den in die­sem kri­ti­schen Augen­blick ein groß­ar­ti­ger Pre­mier­mi­ni­ster für unser Land sein!« (eig. Übers.) Danach quit­tier­te Mays Außen­mi­ni­ster sei­nen Dienst und zog sich auf die Hin­ter­bän­ke des Unter­hau­ses zurück. Pre­mier­mi­ni­ste­rin May schied am 24. Juli aus Amt und Wür­den, als Boris John­son die Macht über­nahm. May ist mit ihrer Poli­tik – nicht nur hin­sicht­lich des Brexits – auf gan­zer Linie geschei­tert. Kata­stro­pha­le Fol­gen zei­tig­te ihre ein­zi­ge gro­ße Reform, durch die alle Sozi­al­lei­stun­gen in einer Zah­lung, dem »Uni­ver­sal Cre­dit«, ver­eint wur­den. Dazu dem­nächst mehr. Sie­he: https://unitetheunion.org/campaigns/stop-universal-credit/.

Der 1964 gebo­re­ne Alex­an­der Boris de Pfef­fel John­son ist bereits der 14. Pre­mier­mi­ni­ster, der unter Köni­gin Eli­sa­beth II. (mit der er weit­läu­fig ver­wandt ist) ins Amt gelang­te. Nach­dem er am Nach­mit­tag des 24. Juli den Buck­ing­ham-Palast wie­der ver­las­sen hat­te, voll­zog er im Rah­men der Macht­über­nah­me eine radi­ka­le Kabi­netts­um­bil­dung, bei der mehr als die Hälf­te von Mays Mini­ste­rin­nen und Mini­stern das Amt ver­lor. Sämt­li­che Schlüs­sel­po­sten des 33 Mit­glie­der star­ken neu­en Kabi­netts – dazu gehö­ren 23 Mini­ster, 9 Staats­mi­ni­ster sowie der Vor­sit­zen­de des Unter­hau­ses – sind nun unter Kon­trol­le der füh­ren­den Köp­fe der Vote-Lea­ve-Kam­pa­gne. Gestähl­te Brexi­te­ers beset­zen inzwi­schen dar­über hin­aus die Schalt­stel­len der Poli­tik­be­ra­ter, Pres­se­chefs und Kampagnenleiter.

Als star­ker Mann hin­ter genau dem Mann, der »den gan­zen Unter­schied aus­ma­chen« möch­te, gilt der unter May aus Pro­test zurück­ge­tre­te­ne Brexit-Mini­ster Domi­nic Raab. Der Jurist wirk­te als Diplo­mat, bevor er in die Poli­tik wech­sel­te, und dient nun als Mini­ster für aus­wär­ti­ge und Com­mon­wealth-Ange­le­gen­hei­ten. Der über­zeug­te Brexi­te­er ist als »First Secre­ta­ry of Sta­te« auch John­sons Stellvertreter.

Der bis­he­ri­ge Innen­mi­ni­ster Sajid Javid erhielt das Amt des Schatz­kanz­lers (Finanz­mi­ni­ster). Der ehe­ma­li­ge Invest­ment­ban­ker, der sich als Teil des »moder­nen, mul­ti­kul­tu­rel­len Bri­tan­ni­ens« ver­steht, was ihn nicht hin­der­te, 2016 für den EU-Aus­tritt zu stim­men, wird John­son abso­lut unter­stüt­zen. Das Bud­get für einen unge­re­gel­ten Brexit ver­dop­pel­te Javid prompt von 2,1 Mil­li­ar­den auf 4,2 Mil­li­ar­den Pfund. O-Ton: »Wenn wir kei­nen guten Deal bekom­men, müs­sen wir ohne gehen.«

Die neue Mini­ste­rin für Inne­res heißt Priti Patel und gehört zu jenen Guje­ra­tis, die (wie ihr Kol­le­ge Javid) im König­reich gebo­ren wur­den. Die ehe­ma­li­ge Bera­te­rin gerier­te sich in der Brexit-Kam­pa­gne als weib­li­che Gal­li­ons­fi­gur und strik­te Rechts­kon­ser­va­ti­ve. Unter May dien­te sie eine Wei­le als Mini­ste­rin für inter­na­tio­na­le Ent­wick­lung, muss­te 2017 aber wegen eines diplo­ma­ti­schen Fehl­tritts ihren Dienst quittieren.

Der unüber­hör­ba­re Brexi­te­er und bis­he­ri­ge Umwelt­mi­ni­ster Micha­el Gove blieb im Kabi­nett, obwohl er 2016 Boris John­son im Wett­ren­nen um den Tory-Par­tei­vor­sitz für »unge­eig­net« erklärt und sel­ber – erfolg­los – kan­di­diert hat­te. Auch bei der jüng­sten Urwahl trat er gegen John­son an (und kam unter die letz­ten Drei). Für John­son ist der Riva­le, der sich als lang­jäh­ri­ger Chef ver­schie­de­ner Mini­ste­ri­en als effi­zi­ent und durch­set­zungs­fä­hig erwie­sen hat, offen­bar die per­fek­te Beset­zung der frei­en Funk­ti­on »Chan­cell­or of the Duchy of Lan­ca­ster« (Kanz­ler des Her­zog­tums Lan­ca­ster). Gove hat spe­zi­ell die Auf­ga­be, den har­ten EU-Aus­tritt zu managen.

Andrea Lead­som, die May qua­si den fina­len Tritt aus dem Amt ver­setz­te, ist eine aus­ge­wie­sen prag­ma­ti­sche Brexi­tee­rin, die als neue Mini­ste­rin für Wirt­schaft, Ener­gie und Indu­strie­stra­te­gie um ihre Auf­ga­be nicht gera­de zu benei­den ist. Auch Liz Truss, die neue Mini­ste­rin für inter­na­tio­na­len Han­del, gehört zu John­sons enge­rem Zir­kel und unter­stützt die Plä­ne, das König­reich zu einem gering regu­lier­ten Nied­rig­steu­er­land zu machen. Sie will vor allem all die jün­ge­ren Leu­te in die Con­ser­va­ti­ve Par­ty locken, die sich als »Uber-riding, Airbnb-ing, Deli­veroo-eating free­dom figh­ters« verstehen.

Der von May nach Raabs Rück­tritt ein­ge­setz­te Mini­ster für den Aus­tritt aus der Euro­päi­schen Uni­on, Ste­phen Bar­clay, blieb übri­gens im Amt. Was Wun­der, er gehört seit jeher zu den Unter­stüt­zern von Boris John­son und ist gewiss kein geschätz­ter Part­ner des EU-Chef­ver­hand­lers Michel Bar­nier, dem er bereits mit­teil­te, »Mays Deal« sei nun tot.

Nicht zu ver­ges­sen Jacob Rees-Mogg. Der selt­sam alter­tüm­lich auf­tre­ten­de Tory-Par­la­men­ta­ri­er und Brexi­te­er, der in der »Euro­pean Rese­arch Group« die frak­ti­ons­in­ter­ne Grup­pe der EU-Geg­ner ver­sam­melt hat, fun­giert als Vor­sit­zen­der des Unter­hau­ses, ist also zustän­dig für die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit der Regie­rung. Boris John­son geht offen­bar davon aus, dass Rees-Mogg alles tun wird, um das Par­la­ment so gut wie mög­lich in Schach zu halten.

Nun hat sich zwar fast jedes zwei­te nicht so wich­ti­ge Kabi­netts­mit­glied 2016 noch für den Ver­bleib in der EU aus­ge­spro­chen, und spra­chen sich etwa Amber Rudd, die Mini­ste­rin für Arbeit und Pen­sio­nen, Nicky Mor­gan, die Mini­ste­rin für Kul­tur, Medi­en und Sport und Koor­di­na­to­rin für den Kampf gegen Ein­sam­keit sowie der im Amt ver­blie­be­ne Gesund­heits­mi­ni­ster Matt Han­cock bis­lang gegen einen No-Deal-Brexit aus. Rudd amtiert sogar als zwei­te Vor­sit­zen­de der »One Nati­on Group«, die in der Tory-Frak­ti­on das Gegen­ge­wicht zu Moggs »Euro­pean Rese­arch Group« bil­det. Aber gemach. »The Right Hono­ura­ble« Boris John­son wird die­sen Herr­schaf­ten sei­ne Erwar­tungs­hal­tung unmiss­ver­ständ­lich dar­ge­legt haben.

Sze­nen­wech­sel. Als der neue Pre­mier­mi­ni­ster am 24. Juli sei­ne erste Rede in der Dow­ning Street No. 10 hielt, ver­kün­de­te er: »Wir gehen am 31.Oktober aus der EU raus – kom­me was da wol­le!« Und er ver­sprach: »Ich wer­de das groß­ar­ti­ge Land wie­der einen und wei­ter­brin­gen.« Und er tön­te: »Wie ein schlum­mern­der Rie­se wer­den wir uns erhe­ben und die Fes­seln von Selbst­zwei­fel und Nega­ti­vi­tät abstrei­fen. Wir wer­den eine bes­se­re Bil­dung, bes­se­re Infra­struk­tur, mehr Poli­zei und fan­ta­sti­sches Breit­band in jedem Haus­halt genie­ßen.« (eig. Übers.)

Für »doub­ters, doom­sters and gloom­sters« (Zweif­ler, Unter­gangs­pro­phe­ten und Pes­si­mi­sten) hat Boris John­son kein Ver­ständ­nis. Inwie­weit er in den weni­gen Wochen bis Ende Okto­ber tat­säch­lich wirk­lich alles auf eine Kar­te setzt und einen Bruch mit der EU pro­vo­ziert, bleibt abzu­war­ten. Schon weil die Par­la­ments­mehr­heit sei­ner von der DUP gestütz­ten Regie­rungs­par­tei seit der ver­lo­re­nen Nach­wahl im wali­si­schen Wahl­kreis Bre­con and Rad­nor­shire am 1. August auf nur eine Stim­me geschrumpft ist, ste­hen die Zei­chen im Unter­haus auf Sturm. John­son bezeich­net die von der EU als nicht ver­han­del­bar betrach­te­te Not­fall­lö­sung für Nord­ir­land, den Back­stop, als anti­de­mo­kra­tisch. Kom­pro­mis­se in die­ser Fra­ge sind schwer vor­stell­bar. Im Übri­gen dürf­te sei­ne unver­ges­se­ne cle­ve­re Lüge, der Brexit wür­de 350 Mil­lio­nen Pfund pro Woche in den Gesund­heits­dienst spü­len, nicht unbe­dingt die letz­te gewe­sen sein. Zudem sind die mei­sten Schot­ten ent­schie­den für den Ver­bleib in der EU. Auch die mei­sten Nord­iren sind alles ande­re als erpicht auf einen No-Deal-Brexit; unter ihnen wächst die Zahl der Befür­wor­ter einer Wie­der­ver­ei­ni­gung mit der Repu­blik Irland täglich.

Der bis­her zwei­mal zum Bür­ger­mei­ster Lon­dons gewähl­te Poli­ti­ker, der zusätz­lich zwei Jah­re als umstrit­te­ner Außen­mi­ni­ster wirk­te, hat neben sie­ben ande­ren Büchern auch ein umfang­rei­ches Werk über ein wahr­li­ches Enfant ter­ri­ble der bri­ti­schen Poli­tik vor­ge­legt: Win­s­ton Chur­chill (Boris John­son: »Der Chur­chill-Fak­tor«, aus dem Eng­li­schen von Nor­bert Jura­s­chitz und Wer­ner Rol­ler, Stutt­gart 2015). Und war­um inter­es­sier­te sich der ehe­ma­li­ge Jour­na­list und Zei­tungs­her­aus­ge­ber aus­ge­rech­net für einen Poli­ti­ker, über den bereits eine rie­si­ge Fül­le von Stu­di­en vor­liegt? »Chur­chill ist heu­te wich­tig, weil er unse­re Zivi­li­sa­ti­on ret­te­te. Und das Ent­schei­den­de ist, dass nur er dazu imstan­de war.«

Für Boris John­son ist Chur­chill ein gro­ßes Vor­bild. Zwar ver­weist er dar­auf, dass Chur­chills Schu­he für ihn zu groß sei­en. Aller­dings kommt die Rede gewiss nicht zufäl­lig auf die auch ihm eige­ne Risi­ko­freu­de nebst Drauf­gän­ger­tum, auf Exzen­trik und Ori­gi­na­li­tät, Sprach­witz und Autoren­schaft. Übri­gens geht er im 20. Kapi­tel aus­drück­lich auf Chur­chill den »Euro­pä­er« ein. Da heißt es ein­lei­tend: »Zu kei­ner Fra­ge ist der Geist des Ver­stor­be­nen regel­mä­ßi­ger kon­sul­tiert wor­den als zum schwer zu durch­drin­gen­den, sper­ri­gen The­ma der bri­ti­schen Bezie­hun­gen zu ›Euro­pa‹. Die­se Kon­tro­ver­se hat bis heu­te noch jeden sei­ner Nach­fol­ger im Amt des Pre­mier­mi­ni­sters heim­ge­sucht. In eini­gen Fäl­len nahm das Pro­blem so gif­ti­ge Aus­ma­ße an, dass es zur poli­ti­schen Ermor­dung der betrof­fe­nen Per­so­nen führ­te.« (S. 334) Wie wahr. The­re­sa May ist die bis­lang letzte.

Der spä­te Chur­chill sah Groß­bri­tan­ni­en bekannt­lich als Part­ner und För­de­rer eines ver­ein­ten Euro­pas, aber eben nicht als Mit­glied der künf­ti­gen »Ver­ein­ten Staa­ten von Euro­pa«. Bemer­kens­wer­ter­wei­se umschifft John­son die­se Tat­sa­che durch nicht immer schlüs­si­ge Inter­pre­ta­tio­nen. Vor allem aber lobt er Chur­chills »väter­li­chen Stolz« über die euro­päi­sche Idee und schreibt, wohl­ge­merkt 2014, als das König­reich festes Mit­glied der EU war: »Die Euro­päi­sche Gemein­schaft (inzwi­schen: Uni­on) hat im Zusam­men­wir­ken mit der NATO […] den in ihren Gren­zen leben­den Men­schen eine Zeit des Frie­dens und des Wohl­stands ver­schafft, wie es sie seit den Tagen von Anto­ni­us Pius und Marc Aurel nicht mehr gege­ben hat. Damit sol­len die vie­len Unzu­läng­lich­kei­ten und Exzes­se die­ses Systems aber nicht unter den Tep­pich gekehrt wer­den.« (S. 349)

Chur­chill, der am 13. Mai 1940, drei Tage nach sei­nem Amts­an­tritt, den Bri­ten »Blut, Müh­sal, Schweiß und Trä­nen« im Kampf gegen Hit­ler und die Wehr­macht abver­lang­te, reagier­te damit auf eine mas­sen­mör­de­ri­sche Aggres­si­vi­tät von außen. John­son fabu­liert wie säbel­ras­selnd vom No-Deal-Brexit, obwohl die EU das Ver­ei­nig­te König­reich in kein­ster Wei­se bedroht. Und was wird wohl aus dem von ihm gelob­ten euro­päi­schen »Frie­den und Wohl­stand« – und zwar auf der Insel wie auf dem Kon­ti­nent –, wenn er mit sei­ner neu­en Regie­rung tat­säch­lich das so unwahr­schein­lich Schei­nen­de wahr macht? Dro­hen Zoll- und Bür­ger­krie­ge? Fest steht: Das Par­la­ment ist mehr­heit­lich gegen den No Deal. Im Übri­gen ver­blei­ben noch eini­ge Wochen bis zur Hal­lo­ween-Nacht, da kann noch so eini­ges Gru­se­li­ges geschehen.