Regieren in Italien bald Post- mit Neofaschisten, die politischen Freunde Orbans und Trumps? Steht die Demokratie auf dem Spiel, wie viele fürchten? Alle Umfragen sagen seit langem gebetsmühlenartig einen unaufhaltsamen Wahlsieg des Rechtsbündnisses aus FdI (der postfaschistischen Fratelli d’Italia mit »Bruder« Giorgia Meloni an der Spitze), Lega (Matteo Salvini) und FI (Forza Italia/ Silvio Berlusconi) voraus, gegen eine zersplitterte Mitte-Linke um die Demokratische Partei (PD) Enrico Lettas.
Wieso gibt es überhaupt vorgezogene Neuwahlen am 25. September? Wie kam es am 14./21. Juli, inmitten des heißesten Problem-Sommers der Geschichte, zu dem alle überraschenden Rücktritt des »allergrößten Italieners« Mario Draghi? Der hatte zwar nur wenige Monate zuvor – anlässlich der abenteuerlichen (Wieder-)Wahl des Staatspräsidenten Sergio Mattarella – verkündet, seine »Mission« (Covidbekämpfung und Reformen) sei vollbracht und der Autopilot für die Umsetzung des europäischen Aufbauplans (PNRR) eingeschaltet. Damit könne praktisch jeder das Steuerrad übernehmen, aber, um die im Falle von Draghis Wahl ins Präsidentenamt damals schon fälligen Neuwahlen zu verhindern, sollte er dann doch lieber bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2023 am Steuer bleiben (s. Ossietzky 2/22).
Draghis Rücktritt war also höchst erstaunlich, denn er demissionierte, obwohl ihm am 14. Juli die absolute Mehrheit (!) der ihn unterstützenden Parteien der »nationalen Einheit« im Parlament ihr Vertrauen ausgesprochen hatte. Aber eben nicht alle! Ein bisher einmaliger Rücktrittsgrund, den Präsident Mattarella zwar zurückwies, der dann aber doch binnen einer Woche zu einer der bizarrsten Regierungskrisen Italiens führte. Die »Schuld« dafür wird von fast allen dem Ex-Premier Giuseppe Conte angelastet, nach vielen Turbulenzen nun neuer Chef der 5-Sterne-Bewegung. Die hatte am 14. Juli ihre Zustimmung zu dem Dekret »Aiuti« (staatliches Hilfspaket) verweigert, das sie als völlig unzureichend ansah. Conte forderte Draghi auf, die sozialen Forderungen seiner Partei (die bisher noch die meisten Abgeordneten stellt) endlich in Betracht zu ziehen – aber da zeigte sich, dass der Ex-Bankier »weder über die Kultur noch die Mittel verfügt, die tiefe soziale Krise des Landes anzugehen«, wie es Andrea Ranieri formulierte (il manifesto, 20.7.22). Anders gesagt, Draghi könne nicht politisch vermitteln – was er erklärtermaßen auch nie wollte, sondern einfach nur »durchregieren«: In 17 Monaten setzte er seine Gesetzesdekrete mit 50 Vertrauensabstimmungen durch.
Im kontrast- und konfliktreichen Italien, in dem »die eine Hälfte der Bevölkerung auf Kosten der anderen lebt«, wie der Ökonom Alberto Brambilla lakonisch formulierte (Corriere Economia, 7.8.2022), ist nicht nur die Steuerlast so ungleich verteilt wie kaum anderswo in der EU, sondern die Kaufkraft der Löhne ist während der letzten dreißig Jahre um fast 3 Prozent gesunken, gegenüber einem Zuwachs in Deutschland (und Europa) von weit über 30 Prozent. Jüngste Eurostat-Daten weisen schon für Dezember 2021 20 bis 28 Prozent unter und an der Armutsgrenze lebende Italiener aus.
Bei dem längst schwelenden Parteien-Dissens geht es um fällige Reformen des Steuersystems, des Sozialstaats, der Arbeits- und Umwelt, um öffentliche Investitionen, deren Richtung die neoliberalen Grenzen von Draghis Agenda sprengt. Mario Draghis wirtschaftlicher, sozialer und militärischer Atlantismus schien zwar anfangs »bombensicher« zu sein, gerade auch vor den sozialen Forderungen der Gewerkschaften und der 5-Sterne-Bewegung (M5S). Aber eben nicht fähig, die nötigen Veränderungen wirklich anzugehen, die auch eine Umsetzung des EU-Aufbauplanes PNRR voraussetzt, wenn die auszugebenden Milliarden nicht ins Leere oder in falsche Richtungen fließen sollen. Angesichts der durch Covid, Kriegsausgaben und Sanktionen noch tiefer gespaltenen Gesellschaft sind nachhaltige Eingriffe in die historischen Ungleichgewichte zwischen Lohn und Rendite, Armen und Reichen, endlich erforderlich – eine Aufgabe, der Draghi sich nicht stellt.
So wurde sein Rückzug am 20.7. besiegelt durch ein clever kalkuliertes Ausscheren der Rechten (Lega und Forza Italia) – neben M5S – bei der erneuten Vertrauensfrage Draghis im Senat, woraufhin Sergio Mattarella umgehend einen zeitnahen Wahltermin festsetzte.
Ein Wahlkampf in nur knapp zwei Sommermonaten mit einem halb reformierten Wahlmodus, einer stark reduzierten Abgeordnetenzahl in neuen, größeren Wahlkreisen und vielen Fragezeichen ist ein Novum in der langen Tradition der politischen commedia dell’arte! Nicht neu sind allerdings Wahlmechanismen wie der die Wähler-Repräsentanz negierende Mehrheitsbonus, der dem 45 Prozent erreichenden Wahlbündnis 60 Prozent der Abgeordneten zuteilt – wie schon unter Berlusconi. Der ist noch immer lautstark präsent und hat auf den blockierten Listenplätzen seiner Forza Italia die alte Garde aus den 90ern platziert. Auch die anderen Parteien zeigen überwiegend altbekannte Gesichter in neuen Wahlbündnissen.
Aber ein einzig sinnvolles breites Bündnis gegen die Rechten – wenn man es denn gewollt hätte – scheiterte schon an der sofortigen folgenschweren Entscheidung Enrico Lettas, das Zusammengehen seiner Demokraten mit Contes M5S auszuschließen – das entscheidende Wahlgeschenk an die Rechte! Auch in der restlichen politischen Mitte konnte man sich auf keine Übereinkunft zur Sicherung der Verfassung einigen. Immerhin trägt das herrschende Wahlrecht verfassungswidrige Züge, wie schon das vorige, das 2014 vom Verfassungsgericht verworfen worden war. Denn die nur noch von den Parteispitzen ernannten Abgeordneten agieren wie Vasallen ihrer Herren und stehen in keiner direkten Verantwortung zu den Wählern. Lediglich die 5-Sterne ließen ihre Kandidaten wieder online von ca. 50.000 Mitgliedern auswählen, für jeweils nur zwei Mandate.
Sekundär demgegenüber erscheinen die erst Ende August formulierten vagen Programmpunkte der Parteien, die sich oft ähneln und Krieg und Umwelt ausblenden: Alle fordern hier oder da etwas weniger Steuern, etwas mehr Soziales usw., wenn man absieht von der schon 2008 angekündigten Verdoppelung der Mindestrenten auf »1000 € für alle«, mit der Berlusconi wieder wedelt, von der Million Bäume, die er für das Klima pflanzen will oder von Salvini demagogisch verbrämter Flat-Tax von 15 Prozent und der gegen die Migranten geforderten Schiffsblockade im Mittelmeer.
Contes – durch das Ausscheren des Außenministers Luigi Di Maio – verschlankte 5-Sterne-Bewegung bleibt politisch wieder ausgegrenzt, vorgeblich, weil sie Draghi zu Fall gebracht hat. Sie vertritt mit Nachdruck eine Stärkung des Sozialstaates und des umstrittenen Bürgergeldes, Maßnahmen gegen Prekarisierung, für Arbeitszeitverkürzung, ökologischen Umbau u. a. m., was sie in die Nähe der kleinen Linksparteien (Sinistra Italiana, LeU, Articolo 1 und Verdi/Grüne) rückt, die aber doch lieber mit Lettas PD überleben möchten.
So kam es also auch nicht zu einem Zusammenschluss aller Linken, gemeinsam mit dem letzten Aufgebot der außerparlamentarischen Rifondazione comunista und Potere al Popolo in der Unione Popolare, koordiniert vom ehemaligen Bürgermeister von Neapel, Luigi De Magistris. Die Unione vertritt die einzige Alternative zum neoliberalen atlantischen Mainstream – in der Hoffnung, doch resignierte Linke unter den Nichtwählern wieder an die Wahlurne zu bringen. Die bürokratische Hürde der Unterschriftensammlung für ihre neue Liste hat sie zwar genommen, bleibt aber – ohne eigene Mittel – in den öffentlichen Medien aus dem Wahlkampf so gut wie ausgeblendet. Allein aus dem Stand die 3-Prozent-Hürde zu schaffen, ist fast unmöglich, aber sie tritt an, auch um ein Auffangbecken für danach zu werden, ein möglicher Aggregationspunkt in den absehbaren Stürmen, die da kommen werden.
Die Rechte propagiert im Wesentlichen ihr aus der Berlusconi-Ära bekanntes, reaktionäres Programm. Ihrem erneuten Angriff auf die antifaschistische Verfassung zur Verankerung einer Präsidial-Republik in Italien sind ja auch die Demokraten nicht gänzlich abgeneigt. Ob aber grundsätzliche Verfassungsänderungen und weitere kühne Eingriffe ins Justizwesen tatsächlich durchgesetzt werden können, wird weiterhin Objekt politischer Auseinandersetzung bleiben, wie auch die von der Lega propagierte »autonomia differenziata« zwischen den Regionen in Nord und Süd, die die ökonomische Einheit des Landes zu sprengen droht. Umstritten ist auch die wiederentdeckte Option für Atomenergie, die 1987 per Referendum abgewählt worden war. Denn bei aller politischen Resignation gibt es noch immer jene Zivilgesellschaft im Lande, die sich außerparteilich lokal stark engagiert und in Volksabstimmungen gegen die Regierung votiert.
Die Bande zwischen Politikern und Bevölkerung sind gelöst seit dem Ende der einst lokal verankerten Volksparteien. Mit wenigen Ausnahmen agieren die heutigen Nachfolgeparteien nach Marketingprinzipien. Seitdem ging die Zahl der vorher ca. 90-prozentigen Wahlbeteiligung kontinuierlich zurück. Bei den letzten Parlamentswahlen 2018 waren es noch 74 Prozent, bei jüngsten Regionalwahlen nur noch 57 Prozent! Die heute mehr als 70 zur Wahl anstehenden Formationen zeigen eine Zersplitterung, vor der die Wähler kapitulieren: 28 Prozent sind inzwischen überzeugt, dass Wahlen die Politik nicht mehr beeinflussen.
Die Meinung, in Italien herrsche eigentlich eine durch Wahlen abgemilderte Oligarchie, scheint damit in negativo bestätigt.
Die anwachsende Protesthaltung in der Bevölkerung gegen diese Oligarchie und ihre seit 2011 »auf Brüssels Weisung« eingesetzten Regierungen (Mario Monti und die folgenden Großen Koalitionen der Demokraten unter Enrico Letta und Matteo Renzi mit Berlusconis FI) wurde damals aufgefangen und geschürt von der Rechten (Lega und FdI) und der 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo. Der hatte den politisch weitgehend undifferenzierten Unmut von unten gegen »die da oben« gewissermaßen kanalisiert, »Gelbwesten« und ähnlich breite Protestbewegungen blieben Italien fern. Im Laufe nur weniger Jahre wuchs Grillos Bewegung aber doch politisch so weit an, dass sie bei den Parlamentswahlen 2018 33 Prozent der Stimmen erhielt – ein Schreckgespenst für die Oligarchie und ihre »classe politica«, von der keiner mit den schwer berechenbaren 5-Sternen eine Regierung bilden wollte! Der politikferne, schließlich als Regierungschef eingesetzte Giuseppe Conte hat Italien dann seit 2018 relativ erfolgreich durch viele unerwartete Klippen, wie die Corona-Pandemie, geschifft und sogar ein erstes Bürgergeld (RdC) durchgesetzt, als Auftakt zu einer Versorgung der wachsenden Zahl an working-poor und Arbeitslosen. Die EU gewährte ihm sogar einen üppigen Teil des New Generation Fonds – aber dessen Verteilung und Kontrolle wollte man dann doch lieber nicht den M5S und der PD überlassen, mit der Conte zuletzt koalierte: Da wurde Conte einfach abgelöst – wiederum »von oben« und ohne Wahlen – und durch Mario Draghi ersetzt, als urbi et orbi hochgelobter deus ex macchina.
Und heute dreht sich die Spirale weiter: Nun wird Draghi – mittels Wahlen – ersetzt durch eine direkte Regierung der Rechten, wie schon vor dreißig Jahren unter Berlusconi. Das herrschende Wahlrecht stärkt das bestehende Machtgefüge.
Gegenüber dem christdemokratischen Polit-Bürokraten Enrico Letta, dessen PD fast alle Maßnahmen der neoliberalen Austerity-Politik mitgetragen hat, die tief in die Gesellschaft eingeschnitten haben, gibt sich die aufmüpfige, extrem rechte Oppositionsführerin Giorgia Meloni als rettende Alternative für viele Verlierer und Bürger mit Abstiegsängsten. Als erste mögliche Regierungschefin findet sie sogar Unterstützung von italienischen Feministinnen.
Aber mehr als vom tatsächlichen Wahlausgang wird die politische Zukunft Italiens davon abhängen, wie stark Krieg und Wirtschaftskrise Europa noch weiter schwächen. Und wie stark sich ab 2023 die Hardliner im Norden der EU erneut durchsetzen und die bereits begonnene Spekulation der Finanzmärkte mittels »spread« (Zinsschwankungen der Staatsanleihen) zu absehbaren ökonomischen Engpässen führt, die letztlich wieder der Bevölkerung aufgebürdet werden. Das hochverschuldete Land bietet keine Spielräume mehr. Zwar stehe eine griechische Lösung nicht an, denn Italien sei »too big to fail«, so hofft man. Aber in den sich dann verschärfenden sozialen Auseinandersetzungen könnte diese Rechte zu einer aktiven Ordnungsmacht werden, schon jetzt fordert sie verstärkt den Ausbau von Polizei und Militär. Vorwärts in die Vergangenheit.