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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Neusprech in der Rentenpolitik

»Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit« ist zu einem Kampf­be­griff gewor­den. Deutsch­land ver­greist. Die Deut­schen ster­ben aus. Die Baby­boo­mer gehen in Ren­te. Die Alten wer­den mehr, die Jun­gen weni­ger: Da muss es zu einer gerech­ten Lasten­ver­tei­lung kom­men. Seit 30 Jah­ren wird an die­sem Bild gear­bei­tet. Jede Ren­ten­er­hö­hung oder Ver­bes­se­rung bei den Ren­ten wird von Wirt­schafts­ver­bän­den, den sie unter­stüt­zen­den Par­tei­en, von den als Wis­sen­schaft­ler getarn­ten Lob­by­isten der Ver­si­che­rungs- und Finanz­kon­zer­ne und den Main­stream­m­e­di­en ange­grif­fen. Das gehe zu Lasten der Jun­gen. Sie wür­den über Gebühr bela­stet. Die Alten müss­ten end­lich auch ihren Bei­trag leisten.

Die Ver­fech­ter sol­cher »Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit« betrei­ben nun schon über 30 Jah­re Ren­ten­po­li­tik. Ihre Bilanz ist bereits jetzt ver­hee­rend – und zwar für die jet­zi­gen Rent­ne­rin­nen und Rent­ner, aber in noch weit grö­ße­rem Umfang für die heu­te Jungen.

Eine Zwi­schen­bi­lanz zeigt: Die Zahl der Grund­si­che­rungs­emp­fän­ger (Sozi­al­hil­fe) ist inner­halb von 18 Jah­ren um 110 Pro­zent gestie­gen. Unter der Armuts­schwel­le (aktu­ell 1200 € für Ein­zel­haus­hal­te) leben mitt­ler­wei­le 20 Pro­zent der Rent­ne­rin­nen und Rent­ner, auch hier eine Zunah­me von etwa 70 Pro­zent in 15 Jah­ren. Das Ren­ten­ni­veau (net­to vor Steu­ern) ist seit 1990 von 55 auf 48 Pro­zent, also um 13 Pro­zent gesun­ken. Wird die zuneh­men­de Besteue­rung der Ren­ten ein­ge­rech­net, ist das Net­to­ren­ten­ni­veau nach Sozi­al­ab­ga­ben und Steu­ern (Net­to­er­satz­quo­te) um cir­ca 16 Pro­zent gesunken.

Die Anga­ben zum Ren­ten­ni­veau gel­ten aller­dings nur für Rentner*innen, die 45 Jah­re durch­schnitt­li­ches Ein­kom­men erziel­ten – die soge­nann­ten Eck- oder Stan­dard­rent­ner. Die­se Stan­dard­rent­ner sind aber in mehr­fa­cher Hin­sicht ein Sonderfall.

Nach den Zah­len der Deut­schen Ren­ten­ver­si­che­rung (DRV) für 2017 sehen die rea­len Ver­hält­nis­se so aus: 61 Pro­zent der bei­trags­pflich­ti­gen Beschäf­tig­ten erziel­ten ein Ein­kom­men unter dem Durch­schnitts­lohn. Die durch­schnitt­li­chen Ren­ten­bei­trags­zei­ten lagen weit unter denen der Stan­dard­ren­te von 45 Jah­ren. Sie betru­gen ledig­lich 39 Jah­re (bei Män­nern: 41,5; bei Frau­en 36). 2017 betrug die Stan­dard­ren­te 1.243 € (Zahl­be­trag – also net­to vor Steu­ern). Über 75 Pro­zent aller Rent­ne­rin­nen und Rent­ner erhiel­ten eine Ren­te unter­halb die­ser Standardrente.

Die finan­zi­el­le Bilanz kor­re­spon­diert mit die­ser Art von »Sozi­al­po­li­tik«. Beson­ders deut­lich wird das am sin­ken­den Anteil, den die älte­ren Men­schen vom Brut­to­in­lands­pro­dukt (BIP) erhiel­ten. Obwohl seit 1977 die Anzahl der über 65jährigen gegen­über der Gesamt­be­völ­ke­rung um 43 Pro­zent zunahm, sank der Anteil der Ren­ten­aus­ga­ben am BIP um vier Pro­zent. Beson­ders krass ist die Ent­wick­lung der letz­ten 17 Jah­re. Seit 2003 stieg die Zahl der über 65-Jäh­ri­gen um 21 Pro­zent, der Ren­ten-Anteil am BIP sank dage­gen um 11 Prozent.

Wenn die gül­ti­gen Geset­ze in Kraft blei­ben, wird die Net­to­er­satz­quo­te für die heu­te 20- bis 30-jäh­ri­gen auf 50 Pro­zent absin­ken. Die­se Pro­gno­se­rech­nung wird seit vie­len Jah­ren von OECD-Wis­sen­schaft­lern in den Stu­di­en »Pen­si­ons at a Glan­ce« aufgestellt.

Aber selbst die­se schon erschüt­ternd nied­ri­ge Stan­dard­ren­te wird für eine zuneh­men­de Zahl von Erwerbs­tä­ti­gen in wei­ter Fer­ne blei­ben. Das liegt an zahl­lo­sen sozi­al­po­li­ti­schen Gegen-Refor­men. Die Hartz I bis IV-Geset­ze haben den Nied­rig­lohn­be­reich und die pre­kä­ren Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se auf neun bis zehn Mil­lio­nen hoch­ge­trie­ben. Zusätz­lich wur­de im Ren­ten­recht eine gro­ße Zahl von Rege­lun­gen zur Ver­rin­ge­rung der Ren­ten­an­wart­schaf­ten in Kraft gesetzt. In Stich­wor­ten die Wichtigsten:

Für län­ger­fri­sti­ge Arbeits­lo­se (ALG-II-Emp­fän­ger) gibt es kei­ner­lei Ren­ten­punk­te mehr (wie noch bei der Arbeits­lo­sen­hil­fe bis 2000).

Für Nied­rig­lohn­emp­fän­ger wer­den seit 1992 kei­ne Auf­stockungs­punk­te mehr angerechnet.

Für Aus­bil­dungs­zei­ten wer­den seit 2009 kei­ne Ent­gelt­punk­te mehr gut­ge­schrie­ben, das waren bis 1996 noch sie­ben Jah­re, die auf null zusam­men­ge­stri­chen wurden.

Die Hin­ter­blie­be­nen-Anwart­schaf­ten (gro­ße Wit­wen­ren­te) wur­den von 60 auf 55 Pro­zent reduziert.

Wer vor der Regel­al­ters­gren­ze in Ren­te geht, dem wer­den die bereits erwor­be­nen Ent­gelt­punk­te redu­ziert (0,3 Pro­zent pro Monat). Die­se Abzü­ge wer­den mit der Erhö­hung der Regel­ar­beits­gren­ze auf 67 Jah­re noch um eini­ges zunehmen.

Zwangs­ver­ren­tun­gen von ALG-II-Emp­fän­gern ab 63 wer­den mit ent­spre­chen­den Ren­ten­punkt­ab­schlä­gen zusätz­lich bestraft.

Gene­rell sor­gen pre­kä­re Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se (Nied­rig­löh­ne, Leih­ar­beit, Werk­ver­trags­ar­beit, Ket­ten-Prak­ti­ka, sach­grund­lo­se Befri­stun­gen) dafür, dass nur sehr gerin­ge Ent­gelt­punk­te erwor­ben werden.

Von die­sen Maß­nah­men sind vie­le in den aktu­el­len Ren­ten­jahr­gän­gen nicht oder nur teil­wei­se betrof­fen. Die fata­len Wir­kun­gen wer­den die künf­ti­gen Ren­ten­jahr­gän­ge in zuneh­men­der Här­te erfah­ren müssen.

All das wird von den selbst­er­nann­ten Kämp­fern für Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit aus­ge­blen­det, ver­schwie­gen oder weg­ge­lo­gen. Statt­des­sen: »Die Jun­gen müs­sen ent­la­stet wer­den!« Ent­la­stung durch län­ge­res Arbei­ten – bis 69, 70 oder gar 75 Jah­re. Und wer soll län­ger arbei­ten? Natür­lich die heu­te 20- bis 40-Jäh­ri­gen und vor allem die­je­ni­gen, die noch spä­ter gebo­ren sind. Das als Ent­la­stung und Gerech­tig­keit für die Jun­gen zu bezeich­nen, ist Betrug und wah­res Neu­sprech: »Betrug ist Gerechtigkeit«.

Aber, sagen die merk­wür­di­gen »Inter­es­sen­ver­tre­ter« der Jun­gen, jetzt kom­men die Baby­boo­mer-Jahr­gän­ge in das Ren­ten­al­ter. Da wer­den die Ren­ten für die Bei­trags­zah­ler nicht mehr trag­bar sein. Die jet­zi­gen Rent­ner müss­ten des­halb ihren Bei­trag lei­sten – in klar­deutsch: noch weni­ger Ren­te erhal­ten. Mit kon­kre­ten Zah­len wird das nir­gend­wo begrün­det oder erklärt. Es wird auch nir­gend­wo nach­ge­fragt. Die Alten wer­den mehr, das kostet mehr, da muss gehan­delt wer­den – damit geben sich die Main­stream-Medi­en zufrie­den und trans­por­tie­ren unkri­tisch die neo­li­be­ra­le Lösung des »Pro­blems«: Län­ger arbei­ten, Ren­ten­ni­veau sen­ken, ver­bind­lich pri­vat vorsorgen.

Was pas­siert, ist Fol­gen­des: Die gebur­ten­star­ken Jahr­gän­ge (Baby­boo­mer) gehen zwi­schen 2023 und 2034 in Ren­te. Der Alters­ver­sor­gungs­auf­wand aus der gesetz­li­chen Ren­te wür­de sich bei ungün­sti­ger Pro­gno­se bis zum Jahr 2040 um 21 Pro­zent oder nach heu­ti­gen Wer­ten um 70 Mil­li­ar­den Euro erhö­hen (danach sinkt die Bela­stung wie­der). Zwei­fel­los wäre das eine Mehr­be­la­stung. Und die Mehr­be­la­stung in die­ser Dimen­si­on müs­sen die arbei­ten­den Jahr­gän­ge schul­tern – wer denn sonst? Auch hier wie­der die hirn­ris­si­ge »Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit«. Jedem muss klar sein, dass eine Absen­kung des Ren­ten­ni­veaus dau­er­haft wirkt und damit vor allem die Ren­ten der heu­te Jun­gen senkt.

Aber es kommt noch absur­der. Aus­ge­rech­net in den Jah­ren, in denen die Bela­stung für die Alters­ver­sor­gung am höch­sten ist, sol­len die Ver­si­cher­ten über die Bei­trags­ab­ga­ben hin­aus noch Lohn­an­tei­le für die pri­va­te Alters­vor­sor­ge weg­spa­ren. Die­se Spar­gelder sind sozi­al­po­li­tisch totes Kapi­tal. Kein Cent kann für die Alters­ver­sor­gung der Baby­boom-Rent­ner ver­wen­det wer­den. Wenn die jetzt Jun­gen dann in Ren­te gehen (20 bis 40 Jah­re spä­ter) sind die Baby­boom-Jahr­gän­ge längst nicht mehr am Leben. Die­se fak­ti­sche Mehr­be­la­stung als »Ent­la­stung« zu bezeich­nen und damit kei­nen Sturm der Ent­rü­stung aus­zu­lö­sen, ist ein star­kes Stück in der Dis­zi­plin Neu­sprech: »Mehr­be­la­stung ist Entlastung«.

Wie die­ser Betrug in der Öffent­lich­keit so unwi­der­spro­chen auf- und aus­ge­baut wer­den konn­te, kann man bei Orwells »1984« stu­die­ren: Man streicht die Geschich­te, lebt nur im Heu­te und mehr noch in der Zukunft (in der behaup­te­ten). Man rech­net mit »neu­er« Mathe­ma­tik (vor allem spe­ku­la­tiv in die Zukunft). Man wan­delt Begrif­fe und Wer­te durch Neu­sprech in ihr Gegen­teil. Man wie­der­holt die Lügen so lan­ge, bis die­je­ni­gen, die wider­spre­chen, als Ahnungs­lo­se, Sozi­al­ro­man­ti­ker oder Ver­schwö­rungs­be­haupter denun­ziert oder, bes­ser noch, igno­riert wer­den können.

Aber, wie sagt Win­s­ton Smith bei Orwell: »Frei­heit ist die Frei­heit zu sagen, dass zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewähr­lei­stet ist, ergibt sich alles ande­re von selbst.« Und wider­setzt sich damit gegen die Par­tei­dok­trin »2+2 = 5«, in der Hoff­nung, dass es vie­le mit ihm tun.

Es gibt nach­hal­ti­ge Lösun­gen, um zu lebens­stan­dard­si­chern­den und armuts­ver­mei­den­den Lösun­gen bei der Alters­ver­sor­gung zu kom­men. Dies wer­de ich in einem der näch­sten Hef­te zeigen.

 

Der Autor war lang­jäh­ri­ges Tarif­kom­mis­si­ons­mit­glied in der IG Metall und Betriebs­rat in einem mit­tel­stän­di­schen Betrieb. Er ist Mit­her­aus­ge­ber der Blogs seniorenaufstand.de und renten-zukunft.de.