»Generationengerechtigkeit« ist zu einem Kampfbegriff geworden. Deutschland vergreist. Die Deutschen sterben aus. Die Babyboomer gehen in Rente. Die Alten werden mehr, die Jungen weniger: Da muss es zu einer gerechten Lastenverteilung kommen. Seit 30 Jahren wird an diesem Bild gearbeitet. Jede Rentenerhöhung oder Verbesserung bei den Renten wird von Wirtschaftsverbänden, den sie unterstützenden Parteien, von den als Wissenschaftler getarnten Lobbyisten der Versicherungs- und Finanzkonzerne und den Mainstreammedien angegriffen. Das gehe zu Lasten der Jungen. Sie würden über Gebühr belastet. Die Alten müssten endlich auch ihren Beitrag leisten.
Die Verfechter solcher »Generationengerechtigkeit« betreiben nun schon über 30 Jahre Rentenpolitik. Ihre Bilanz ist bereits jetzt verheerend – und zwar für die jetzigen Rentnerinnen und Rentner, aber in noch weit größerem Umfang für die heute Jungen.
Eine Zwischenbilanz zeigt: Die Zahl der Grundsicherungsempfänger (Sozialhilfe) ist innerhalb von 18 Jahren um 110 Prozent gestiegen. Unter der Armutsschwelle (aktuell 1200 € für Einzelhaushalte) leben mittlerweile 20 Prozent der Rentnerinnen und Rentner, auch hier eine Zunahme von etwa 70 Prozent in 15 Jahren. Das Rentenniveau (netto vor Steuern) ist seit 1990 von 55 auf 48 Prozent, also um 13 Prozent gesunken. Wird die zunehmende Besteuerung der Renten eingerechnet, ist das Nettorentenniveau nach Sozialabgaben und Steuern (Nettoersatzquote) um circa 16 Prozent gesunken.
Die Angaben zum Rentenniveau gelten allerdings nur für Rentner*innen, die 45 Jahre durchschnittliches Einkommen erzielten – die sogenannten Eck- oder Standardrentner. Diese Standardrentner sind aber in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall.
Nach den Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) für 2017 sehen die realen Verhältnisse so aus: 61 Prozent der beitragspflichtigen Beschäftigten erzielten ein Einkommen unter dem Durchschnittslohn. Die durchschnittlichen Rentenbeitragszeiten lagen weit unter denen der Standardrente von 45 Jahren. Sie betrugen lediglich 39 Jahre (bei Männern: 41,5; bei Frauen 36). 2017 betrug die Standardrente 1.243 € (Zahlbetrag – also netto vor Steuern). Über 75 Prozent aller Rentnerinnen und Rentner erhielten eine Rente unterhalb dieser Standardrente.
Die finanzielle Bilanz korrespondiert mit dieser Art von »Sozialpolitik«. Besonders deutlich wird das am sinkenden Anteil, den die älteren Menschen vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) erhielten. Obwohl seit 1977 die Anzahl der über 65jährigen gegenüber der Gesamtbevölkerung um 43 Prozent zunahm, sank der Anteil der Rentenausgaben am BIP um vier Prozent. Besonders krass ist die Entwicklung der letzten 17 Jahre. Seit 2003 stieg die Zahl der über 65-Jährigen um 21 Prozent, der Renten-Anteil am BIP sank dagegen um 11 Prozent.
Wenn die gültigen Gesetze in Kraft bleiben, wird die Nettoersatzquote für die heute 20- bis 30-jährigen auf 50 Prozent absinken. Diese Prognoserechnung wird seit vielen Jahren von OECD-Wissenschaftlern in den Studien »Pensions at a Glance« aufgestellt.
Aber selbst diese schon erschütternd niedrige Standardrente wird für eine zunehmende Zahl von Erwerbstätigen in weiter Ferne bleiben. Das liegt an zahllosen sozialpolitischen Gegen-Reformen. Die Hartz I bis IV-Gesetze haben den Niedriglohnbereich und die prekären Beschäftigungsverhältnisse auf neun bis zehn Millionen hochgetrieben. Zusätzlich wurde im Rentenrecht eine große Zahl von Regelungen zur Verringerung der Rentenanwartschaften in Kraft gesetzt. In Stichworten die Wichtigsten:
Für längerfristige Arbeitslose (ALG-II-Empfänger) gibt es keinerlei Rentenpunkte mehr (wie noch bei der Arbeitslosenhilfe bis 2000).
Für Niedriglohnempfänger werden seit 1992 keine Aufstockungspunkte mehr angerechnet.
Für Ausbildungszeiten werden seit 2009 keine Entgeltpunkte mehr gutgeschrieben, das waren bis 1996 noch sieben Jahre, die auf null zusammengestrichen wurden.
Die Hinterbliebenen-Anwartschaften (große Witwenrente) wurden von 60 auf 55 Prozent reduziert.
Wer vor der Regelaltersgrenze in Rente geht, dem werden die bereits erworbenen Entgeltpunkte reduziert (0,3 Prozent pro Monat). Diese Abzüge werden mit der Erhöhung der Regelarbeitsgrenze auf 67 Jahre noch um einiges zunehmen.
Zwangsverrentungen von ALG-II-Empfängern ab 63 werden mit entsprechenden Rentenpunktabschlägen zusätzlich bestraft.
Generell sorgen prekäre Beschäftigungsverhältnisse (Niedriglöhne, Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, Ketten-Praktika, sachgrundlose Befristungen) dafür, dass nur sehr geringe Entgeltpunkte erworben werden.
Von diesen Maßnahmen sind viele in den aktuellen Rentenjahrgängen nicht oder nur teilweise betroffen. Die fatalen Wirkungen werden die künftigen Rentenjahrgänge in zunehmender Härte erfahren müssen.
All das wird von den selbsternannten Kämpfern für Generationengerechtigkeit ausgeblendet, verschwiegen oder weggelogen. Stattdessen: »Die Jungen müssen entlastet werden!« Entlastung durch längeres Arbeiten – bis 69, 70 oder gar 75 Jahre. Und wer soll länger arbeiten? Natürlich die heute 20- bis 40-Jährigen und vor allem diejenigen, die noch später geboren sind. Das als Entlastung und Gerechtigkeit für die Jungen zu bezeichnen, ist Betrug und wahres Neusprech: »Betrug ist Gerechtigkeit«.
Aber, sagen die merkwürdigen »Interessenvertreter« der Jungen, jetzt kommen die Babyboomer-Jahrgänge in das Rentenalter. Da werden die Renten für die Beitragszahler nicht mehr tragbar sein. Die jetzigen Rentner müssten deshalb ihren Beitrag leisten – in klardeutsch: noch weniger Rente erhalten. Mit konkreten Zahlen wird das nirgendwo begründet oder erklärt. Es wird auch nirgendwo nachgefragt. Die Alten werden mehr, das kostet mehr, da muss gehandelt werden – damit geben sich die Mainstream-Medien zufrieden und transportieren unkritisch die neoliberale Lösung des »Problems«: Länger arbeiten, Rentenniveau senken, verbindlich privat vorsorgen.
Was passiert, ist Folgendes: Die geburtenstarken Jahrgänge (Babyboomer) gehen zwischen 2023 und 2034 in Rente. Der Altersversorgungsaufwand aus der gesetzlichen Rente würde sich bei ungünstiger Prognose bis zum Jahr 2040 um 21 Prozent oder nach heutigen Werten um 70 Milliarden Euro erhöhen (danach sinkt die Belastung wieder). Zweifellos wäre das eine Mehrbelastung. Und die Mehrbelastung in dieser Dimension müssen die arbeitenden Jahrgänge schultern – wer denn sonst? Auch hier wieder die hirnrissige »Generationengerechtigkeit«. Jedem muss klar sein, dass eine Absenkung des Rentenniveaus dauerhaft wirkt und damit vor allem die Renten der heute Jungen senkt.
Aber es kommt noch absurder. Ausgerechnet in den Jahren, in denen die Belastung für die Altersversorgung am höchsten ist, sollen die Versicherten über die Beitragsabgaben hinaus noch Lohnanteile für die private Altersvorsorge wegsparen. Diese Spargelder sind sozialpolitisch totes Kapital. Kein Cent kann für die Altersversorgung der Babyboom-Rentner verwendet werden. Wenn die jetzt Jungen dann in Rente gehen (20 bis 40 Jahre später) sind die Babyboom-Jahrgänge längst nicht mehr am Leben. Diese faktische Mehrbelastung als »Entlastung« zu bezeichnen und damit keinen Sturm der Entrüstung auszulösen, ist ein starkes Stück in der Disziplin Neusprech: »Mehrbelastung ist Entlastung«.
Wie dieser Betrug in der Öffentlichkeit so unwidersprochen auf- und ausgebaut werden konnte, kann man bei Orwells »1984« studieren: Man streicht die Geschichte, lebt nur im Heute und mehr noch in der Zukunft (in der behaupteten). Man rechnet mit »neuer« Mathematik (vor allem spekulativ in die Zukunft). Man wandelt Begriffe und Werte durch Neusprech in ihr Gegenteil. Man wiederholt die Lügen so lange, bis diejenigen, die widersprechen, als Ahnungslose, Sozialromantiker oder Verschwörungsbehaupter denunziert oder, besser noch, ignoriert werden können.
Aber, wie sagt Winston Smith bei Orwell: »Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dass zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewährleistet ist, ergibt sich alles andere von selbst.« Und widersetzt sich damit gegen die Parteidoktrin »2+2 = 5«, in der Hoffnung, dass es viele mit ihm tun.
Es gibt nachhaltige Lösungen, um zu lebensstandardsichernden und armutsvermeidenden Lösungen bei der Altersversorgung zu kommen. Dies werde ich in einem der nächsten Hefte zeigen.
Der Autor war langjähriges Tarifkommissionsmitglied in der IG Metall und Betriebsrat in einem mittelständischen Betrieb. Er ist Mitherausgeber der Blogs seniorenaufstand.de und renten-zukunft.de.