Roger Griffin ist ein britischer Historiker und Faschismusforscher, nicht unumstritten in einigen Thesen. Vor mir liegt sein Aufsatz »Der ›nationale Sozialismus‹ des Faschismus« mit der Unterzeile: »Mussolini sagte ein faschistisches Jahrhundert voraus. Wie falsch lag er?« Der Text leitet den Sammelband »Das faschistische Jahrhundert« ein, erschienen im Herbst 2020 im Verbrecher Verlag, Berlin. Herausgeber ist der Historiker und Politologe Friedrich Burschel, Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.
Weitere Beiträge stammen von dem Sprachwissenschaftler Julian Bruns und der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl zum Verhältnis der Identitären und der Neuen Rechten; von Felix Korsch, Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Abgeordneten der Linkspartei im sächsischen Landtag, zum »Kampfbegriff« Abendland; von dem Soziologieprofessor Felix Schilk zur ideologischen Konvergenz von Konservatismus und Neoliberalismus in der Neuen Rechten; von dem Rechtsextremismus-Experten und Buchautor Volkmar Wölk, der eine »ideologische Zeitreise von Dresden nach Italien und zurück« unternahm.
Das titelgebende Zitat gründet auf dem Stichwort »Faschismus« in der 1932 neu geschaffenen »Enciclopedia Italiana«; sein Autor: Benito Mussolini. Der Faschismus strebte damals gerade in mehreren europäischen Staaten seinem Zenit entgegen. »Nationalistische, rassistische und antikommunistische Subkulturen« griffen »mit äußerster Rücksichtslosigkeit« (Griffin) in mehreren Staaten nach der Macht, so dass der Duce sich bestätigt sah und im Lexikon orakeln konnte, »es gebe … gute Gründe für die Annahme, dass dieses tatsächlich ein Jahrhundert der ›Autorität‹, der ›Rechten‹ sein werde«, ein faschistisches Jahrhundert (»un secolo fascista«).
Wie es gekommen ist, lehrt uns die Geschichte. Die faschistische Hybris brach quer durch Europa unter dem Ansturm der Anti-Hitler-Koalition zusammen. Die Achsenmächte wurden von ihren »Erzfeinden«, dem Kommunismus und der liberalen Demokratie, geschlagen. Mussolini selbst überlebte seine Vorhersage nur um ein Jahrzehnt. Am 28. April 1945 nahmen kommunistische Partisanen den ehemaligen Ministerpräsidenten des Königreiches Italien (1922 – 1943) und Führer des Faschismus beim Versuch, in deutscher Uniform aus Italien zu fliehen, fest und richteten ihn zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci hin. Auf Fotos ist zu sehen, wie beide, an den Füßen aufgehängt, mitten in einem kleinen Ort am Comer See vor einer Tankstelle von Querbalken baumeln.
Und dennoch kommt es, trotz des historischen Scheiterns des Faschismus und trotz der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast schon konsensualen Auffassung, »dass der Faschismus als Faktor zur Umgestaltung der Welt eine vergebliche Kraftanstrengung« gewesen ist (Griffin), nach fast 90 Jahren gegenwärtig zu einer Wiederbelebung des Diktums Mussolinis. Immerhin trägt nicht nur das hier vorgestellte Buch, sondern auch die Veranstaltungsreihe »Gegen den rechten Zeitgeist« der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit dem Münzenberg Forum, den Titel »Das faschistische Jahrhundert«. Am 13. Januar geht es um die »Aktualität des autoritären Charakters«, digital natürlich.
Einen Ausweg bot Griffin die Kunst der Interpretation: »Was geschieht, wenn wir Mussolinis ›Jahrhundert‹ so verstehen, dass er gar nicht das 20. Jahrhundert meinte, sondern vielmehr die ›100 Jahre nach der Gründung des Faschismus‹?« Seine Antwort: »Dann verändert sich die Geschichte, die wir uns erzählen, radikal.« Dann fügen sich NSU, dschihadistische Anschläge, der 11. September, Rassismus, Xenophobie, Neue Rechte, Populismus, Identitäre, religiöse Säuberungen, Terrorismus, Neonazi-Gruppen und -Einzeltäter, autoritäre Regimes zusammen, ausgerichtet am ideologischen Kernthema des Faschismus: »Der herrschende Status quo muss für die ›Nation‹ zerstört werden, damit diese wiedergeboren werden kann«, allerdings nicht als Nationalstaat, sondern als »ethnische Kategorie« im Sinne der »weißen Rasse«, um den »Völkermord an den Weißen« zu verhindern. Griffin: »Das Wikipedia-Zeitalter hat die Faschisten der Gegenwart ermutigt, ihre ureigenste Version ideologisierten Hasses zusammenzubasteln.«
Nachbemerkung: Ich persönlich würde den Terminus vom faschistischen Jahrhundert nicht verwenden. Es war ein schreckliches Jahrhundert, vielleicht »das schrecklichste Jahrhundert in der Geschichte des Westens« (Isaiah Berlin, Philosoph). Ich halte es da lieber mit Eric Hobsbawm, der seine monumentale Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts »Das Zeitalter der Extreme« betitelte. Meines Erachtens eine passendere Definition. »Am Ende des Jahrhunderts ist ein Kulminationspunkt erreicht, an dem alle Risiken und Chancen der Menschheit, alle Gefährdungen und Selbstheilungskräfte wie nie zuvor offenbar geworden sind – als das labile Fundament für die Gestaltung des 21. Jahrhunderts.«
Dies gilt für das in wenigen Tagen zu Ende gehende zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts und leider auch für das anbrechende dritte.
Friedel Burschel (Hg.): »Das faschistische Jahrhundert«, Verbrecher Verlag, 258 Seiten, 19 €