In meiner Kindheit auf dem Lande war das Fliegenpapier so allgegenwärtig wie das Heer der Stuben- und Schmeißfliegen, die aus den Ställen der Bauernhöfe oder von den Misthaufen in Küchen und Lauben drängten, wo, das war die Hoffnung, an den präparierten Fliegenfängern Endstation war. Das Fliegenpapier meiner Kindheit war hässlich, vor allem, wenn es seinen Zweck erfüllt hatte.
Das »Fliegenpapier«, um das es im Folgenden geht, ist dagegen pure Ästhetik, verbildlichende Metaphorik. Kein Wunder, kommt es doch aus dem Zauberberg des Schriftstellers und Literaturkritikers Michael Maar, der seine Sammlung von Aphorismen so betitelte. In den vielen Jahren literarischer Produktion und Schaffensgeschichte hat sich in Maars Zettelkästen, Computer-Ordnern und Gedankenwindungen so manche Betrachtung verhakt, ist haften geblieben, bis sich »Zettels Traum« erfüllen durfte und die Gedankenarbeit, zwischen zwei Buchdeckel gepackt, die Reise zu den Leserinnen und Lesern antreten konnte.
Wie gewonnen, so gesponnen, will heißen: Die »vermischten Notizen«, so der Untertitel der Sammlung, kommen, nachdem sie von Maar gewogen und nicht als zu leicht empfunden wurden, anscheinend so daher, wie sie dem Zauberberg entsprungen sind: als Maximen, kleine Beobachtungen, Reflexionen, Anekdoten, Assoziationen oder Kurzessays. Und so hat dieses Buch weder einen Anfang noch ein Ende, auch keine Handlung. Der Gedankenfluss könnte so weiter fließen, von einem Kiesel zum nächsten, von Fundsache zu Fundsache. Schließlich lag mit den Jahren eine nicht überschaubare Anzahl von Protagonisten auf Maars literaturkritischem Seziertisch.
Und so begegnen wir dem listigen Odysseus und dem Riesen Polyphem und erfahren, warum dieser von den Inselbewohnern für einäugig gehalten wurde, oder warum Goethe einen Elefantenschädel in seiner Weimarer Stube versteckt hielt; lesen den hübschen Gedanken, dass man »vor dem Schönen zurücktreten (muss), um es würdigen zu können, wie vor dem blumenvasengeschmückten Tisch«; sinnieren mit Maar über das Wörtchen »auch« und den falschen Gebrauch des Adjektivs »definitiv«; amüsieren uns über den vormaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und den damaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing und ihr Problem mit den Anzügen beim Staatsempfang. Wir treffen auf Thomas Mann, auf Marlene Dietrich und John F. Kennedy anlässlich ihres kurzen Rencontres, auf Ulrich Becher und seine hochgelobte, doch wenig gelesene »Murmeljagd«, auf Eckhard Henscheid und Robert Gernhardt, auf Arthur Koestler und diverse Komponisten und natürlich auf Proust.
Die Aufzählung der vergnüglichen Notizen über literarische »Geister und Kunst«, um den Titel eines früheren Maar-Buches zu zitieren, ließe sich noch lange fortsetzen. Nun liegt es ganz an Ihnen, ob Sie den Zauberberg öffnen wollen: Das Buch ist am 18. Oktober erschienen. Ich begnüge mich mit einem Bonbon, sozusagen als Leseanreiz:
»Nach ehrlicher und ernster Prüfung der Frage, was man im Leben falsch gemacht hat, welche Fehler man vermieden haben könnte und was, daraus folgend, der Lebensrat an die Kinder wäre: Man hätte öfter die Klappe halten sollen.«
Genau diesen Rat beherzige ich jetzt.
Stopp, nicht ganz, als Hamburger muss ich Maar nämlich widersprechen, bekennt er doch: »Ich kann einfach nicht mit den Hanseaten. Keine sieben Pferde, und zögen sie eine Prachtkutsche, brächten mich für längere Zeit nach Hamburg, der schönsten Stadt Deutschlands. (…) Ein Tag in Hamburg, und du hast dein Kontingent an scheiternden Sozialkontakten erfüllt.« Lieber M. M., das geht entschieden zu weit.
Michael Maar: Fliegenpapier – Vermischte Notizen, Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 128 S., 20 €. (Siehe auch: Ossietzky, Ausgabe 11/2021, zu Michael Maars vielgerühmter Stilstudie »Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur«.)