65 Jahre alt ist der erste Staatsvertrag zwischen Bundesrepublik und Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD). Der wenig bekannte Militärseelsorgevertrag gewann in neuerer Zeit – mit den sich ausweitenden Einsätzen der Bundeswehr im Ausland – erst richtig an Bedeutung. Aus der schlichten Sicht der Militärs ist die Äußerung eines Generals der Nato überliefert: Die Streitkräfte brauchen einen moralischen Kitt, und dieser Kitt müsse das Christentum sein. Der Soldat »mit getröstetem Gewissen«, so meinte man, sei der bessere Soldat. Unterzeichnet hatten die Übereinkunft (nach geheim geführten Verhandlungen) der Bonner Kanzler Adenauer und der Ratsvorsitzende der EKD, der Berliner Bischof Dibelius. Der hatte damit, so meinten wache Zeitgenossen und so sagte es die DDR-Obrigkeit, eine rote Linie überschritten. Wer war dieser Kirchenführer?
Vor hundert Jahren begann der Aufstieg des Stadtpfarrers Otto Dibelius. Er, der spätere Bischof und ab 1949 oberste Protestant in Deutschland, wurde schließlich sogar Präsidiumsmitglied im Weltrat der Kirchen. Seither »schwankt sein Charakterbild in der Geschichte«, von der Parteien Gunst und Hass bestimmt – das gilt von ihm ebenso wie von Schillers Wallenstein und manchem andern.
Zur Abiturfeier hatte der junge Otto eine Rede gehalten über den Geibelschen Vers: »Und es wird an deutschem Wesen / einmal noch die Welt genesen.« Das wäre als Jugendsünde nicht weiter erwähnenswert, hätte er nicht später, ab 1914, als erfolgreicher Kriegs- und Durchhalteprediger massenwirksam geschrieben und geredet. Die Feldgrauen waren für ihn Kämpfer für »die Siegeszeichen Christi«. Die eigene Nation, das in den Bismarck’schen Reichsgrenzen zusammengefasste deutschsprachige Staatsvolk, blieb für ihn lebenslang, wenn nicht ein Glaubensartikel, so doch etwas göttlich Gewolltes. Das hatte böse Folgen, doch bereuen tat er zeitlebens nichts.
Die offizielle Kirche in Berlin-Brandenburg rühmte ihn lange Zeit als ihren großen Sohn: Aufrechter Kämpfer im 3. Reich gegen die Nazi-Fraktion der Deutschen Christen, hieß es; kirchlicher Reorganisator nach Kriegsende; in der Ökumene geachtet wegen des Schuldbekenntnisses von Stuttgart; danach unbeugsamer Mahner gegenüber den Kommunisten, Kritiker des Pankower Gewaltregimes (»Gewalt, die über jedes Recht hinweggeht«). Dass er auch dialogfreudig und großzügig sein konnte, berichten seine innerkirchlichen Gegner. Und einen von ihnen, den religiös-sozialistischen Pfarrer Rackwitz, berief er persönlich in die Provinzialsynode.
Doch die Lobreden hatten, immer mehr spürbar, einige Lücken. In der Berliner Wochenzeitung Die Kirche (dem von Dibelius einst gegründeten Blatt) wurde solches im Sommer dieses Jahres erstmals thematisiert. Der Historiker Manfred Gailus gab auf einer ganzen Seite die Gründe dafür an, warum »ein grundrenoviertes Dibelius-Bild« zu zeichnen sei. Zu diesem Zweck bereitete er gemeinsam mit der Theologischen Fakultät Marburg eine aufschlussreiche internationale Tagung vor. Bemerkenswertes war dort vor kurzem zu hören, einige Aspekte nenne ich: Dibelius war seit Studentenzeiten ein bekennender Antisemit. Ungerührt schrieb er eine Woche nach dem antijüdischen Boykott-Terror vom 1. April 1933 im Berliner Sonntagsblatt: Leider hätten die früheren Regierungen »Zehntausenden von unerfreulichsten Elementen (sprich: Juden) das deutsche Staatsbürgerrecht verliehen«. Was die Regierung Hitler nun gegen die Juden unternimmt, dagegen »wird niemand im Ernst etwas einwenden«.
Der spätere Held des Westens war ein Monarchist, ein entschiedener Feind aller Freigeister und Verächter der Weimarer Demokratie, der »Gottlosenrepublik«. Deren schwarz-rot-goldene Fahne sollte an Kirchengebäuden nicht wehen. Als Ersatz nutzte man eine neu erfundene violette Kirchenfahne, bis – ja, bis diese Ersatzfahne Anfang 1933 eingemottet werden konnte, denn gottlob war es möglich, wieder schwarz-weiß-rot zu flaggen.
Dibelius war ein erwartungsfroher Freund (ein sog. Versteher) der Hitler-Papen-Regierung. Noch im Mai 1933 ließ er die braune Fraktion der Deutschen Christen bei seinem Kirchentag auftreten. Doch war er strikt dagegen, dass der Staat in die Kirche eingreift. Darum gab es ab Juni Zwist mit den Nazis. Dibelius wurde amtsenthoben, weil die braunen Christen neue Kirchenstrukturen und eigene Posten wünschten. – Anlässlich seines 1937 publizierten Frauenbildes warf Agnes v. Zahn-Harnack (berühmt als erste immatrikulierte Studentin Berlins) dem Kirchenmann zu Recht Unbildung, Rückständigkeit und Böswilligkeit vor.
Und dann gab es 1957 Dibelius’ Unterschrift unter den Seelsorgevertrag mit der Regierung Adenauer. Das offizielle Foto zeigt hinter den Unterzeichnern stehend den Hitlergeneral Heusinger und den Kommentator der NS-Rassegesetze Hans Globke, beide eine gruselige Traditionslinie verkörpernd. Der unselige Vertrag, der keine Kündigungsklausel enthält und die Kirche an den hochgerüsteten Nato-Pakt bindet, existiert bis heute.
Bis heute existieren auch Gedenktafeln, Hausbenennungen, ja, zwei Straßennamen und ein Ehrengrab für den Bischof. Jedoch: Die Zeit der gequält ausgewogenen Urteile über Dibelius ist vorbei.
Empfehlung: »Otto Dibelius (1880-1967). Neue Forschungen zu einer Jahrhundertfigur«, Philipps-Universität Marburg 5.-7.10.2022. Ein Tagungsband soll nächstes Jahr erscheinen.