Kam vor 60 Jahren wirklich alles aus heiterem Himmel? Berlin-West als »Schaufenster und Pfahl im Fleisch der Ulbricht-DDR« urplötzlich eingemauert? Hatte nicht zum Konstrukt Mauer = Spaltung US-Präsident Harry S. Truman das Seine beigetragen? Während der Potsdamer Konferenz erwähnte er Stalin gegenüber beiläufig, dass die USA »eine neue Waffe von ungeheuerlicher Zerstörungskraft hätten«. Das war der eigentliche Anstoß für den späteren Kalten Krieg und das Misstrauen in der sowjetischen Politik gegenüber dem Westen. Der britische Erfolgsautor James Hawes bringt Weiteres ans Licht.
Winston Churchill liebäugelte bereits 1944 mit einer Operation Unthinkable: einem anglo-amerikanischen Überraschungsangriff auf die UdSSR mit Unterstützung deutscher Einheiten. Die Royal Army war not amesud (vgl. »Die kürzeste Geschichte Deutschlands« von James Hawes, Ullstein Taschenbuch, 10. Auflage 2020, S. 268 ff.). Sir Winston lieferte mit seiner Fulton-Rede dann 1946 den »Eisernen Vorhang« nach. Bi- und Trizone waren weitere Schritte zu einem abgesonderten westdeutschen Staatsgebilde. 1948 folgte mit der US-Aktion Bird Dog die Separatwährung D-Mark. Der angebliche Wirtschaftswunderstart entpuppte sich als Sprengfalle. Die sowjetische Blockade-Reaktion war provoziert und billigend in Kauf genommen worden. Schließlich befestigten die Gründung der Bonner Republik und deren Militarisierung mit der Bundeswehr die »Mauer« weiter. US-Außenminister John Foster Dulles proklamierte schließlich offen das »rollback«.
Konrad Adenauer war von Anbeginn Mitkonstrukteur. Er wollte lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb. Im Dezember 1955 ließ er den britischen Hochkommissar wissen, dass er »kein Vertrauen in das deutsche Volk (habe). Er fürchte, dass, wenn er einmal abtreten würde, eine künftige deutsche Regierung sich mit Russland zum Nachteil Deutschlands arrangieren könne« (ebenda S. 283). Laut Der Spiegel soll er US-Außenminister Rusk wenige Tage vor dem 13. August sogar die Idee offeriert haben, Westberlin gegen Thüringen, Teile Sachsens und Mecklenburgs zu tauschen (vgl. ebenda S. 284/285). Die »Mauer« von 1961 bewahrte also sogar die Westberliner Insulaner vor diesem hinterhältigen Coup.
Ja, der alte Rosenzüchter am Rhein war immer für eine böse Überraschung gut. Sollten in den Archiven der Bundesrepublik und der USA jemals entsprechende dokumentarische Belege der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, müssten die Mauer-Kapitel ergänzt, wenn nicht gar umgeschrieben werden. Er unterschätzte nur seine Nachfolger. Regime-change im »Wandel durch Annäherung« ermöglichte nach 1990 wieder Krieg von deutschem Boden aus als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln samt NATO-Expansion bis an die russische Haustür.
Genau das aber war der Punkt, um den es 1961 vor dem Mauerbau ging. Im Vorfeld jenes Sonntags im August steckten im Juni beim Wiener Treffen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy knallhart ihre Claims im Gleichgewicht des Schreckens ab. Beide Seiten wollten wegen Westberlin keinen atomaren Krieg riskieren. Chruschtschow brachte einen endlich anstehenden Friedensvertrag ins Gespräch und drohte ultimativ einen Sonderweg mit der DDR an. Berlin-West sollte den besonderen Status »Freie Stadt« erhalten. Das hätte den Vier-Mächte-Status Westberlins schlagartig beseitigt. Den USA ging es allein um die alliierten Zugangsrechte – aus Prestigegründen als westlicher Führungsmacht. Daher kam es zum das Patt. Die »deutsche Frage« war zwar ein Thema, im Grunde aber reine Nebensache! (https://www.chronik-der-mauer.de/chronik/_year1961/ – Niederschrift der Unterredung N. S. Chruschtschows mit J. F. Kennedy in Wien, 4. Juni 1961, Teil 1, sowie https://snanews.de/20210813/mauerbau-1961-westen-mauer-3174775.html – Mauerbau 1961: Teil 3: Westen setzt sich durch – Mauer verhindert Atomkrieg).
Ende Juli 1961 stiftete zudem US-Senator William Fulbright in einem Fernseh-Interview Verwirrung: »Ich verstehe nicht, weshalb die Ostdeutschen ihre Grenze nicht schon längst geschlossen haben; ich glaube, sie haben jedes Recht dazu.« Da aus dem Weißen Haus kein Widerspruch kam, konnte Moskau annehmen, dass eine tatsächliche Abgrenzung Westberlins von den USA als akzeptierbarer Weg zur Lösung der Berlin-Krise angesehen wurde – vermutlich mit Kennedys Segen. Er soll später gesagt haben: »Das ist keine sehr schöne Lösung, aber eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg.«
Öffentlich ist das Protokoll eines Gesprächs zwischen Nikita Chruschtschow und Walter Ulbricht, das am 1. August 1961 vor der Beratung der Warschauer Vertragsstaaten geführt wurde (vollständiger Wortlaut unter www. Chronik der Mauer). Chruschtschow: »Ich habe unseren Botschafter gebeten, Ihnen meinen Gedanken darzulegen, dass man die derzeitigen Spannungen mit dem Westen nutzen und einen eisernen Ring um Berlin legen sollte. Das ist leicht zu erklären: Man droht uns mit Krieg, und wir wollen nicht, dass man uns Spione schickt. Diese Begründung werden die Deutschen verstehen. Dann würden Sie im Interesse des Warschauer Vertrages handeln und nicht nur in Ihrem eigenen Interesse. Ich bin der Meinung, den Ring sollten unsere Truppen legen, aber kontrollieren sollten Ihre Truppen. Erstens muss das vor Abschluss des Friedensvertrages geschehen. Es wäre ein Druckmittel und würde zeigen, dass wir das Problem ernst nehmen. Wenn man uns Krieg aufzwingt, dann wird es Krieg geben. Zweitens hilft das Ihnen, denn es reduziert die Fluchtbewegung.«
So die Moskauer Agenda. Die westlichen Geheimdienste wurden zum Bauernopfer, zu Deppen. Spätestens am 12. August dürften sie westlich von Staaken bemerkt haben, was ich auf der Bahnfahrt nach Stendal ohne Fernglas sehen konnte: Militär zog sich zusammen. Es darf ein Rätsel bleiben, wie 4200 Soldaten mit nahezu 140 Panzern, über 200 SPW und anderem Gerät unentdeckt bleiben konnten. Es handelte sich um Soldaten der Nationalen Volksarmee, Einheiten von Kampfgruppen der Grenz- und Volkspolizei sowie der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD). Chruschtschows Plan wurde Realität.
In Potsdam hatten derweil die drei westlichen Militärmissionen ihren Hauptsitz und gingen von dort ganz offiziell auf ihre Spionagetouren durch die »Soffjetzone«. Aus der Luft war die Royal Air Force von Gatow behilflich. Vom Teufelsberg betrieben die USA ihre Abhörstation zur nachrichtendienstlichen Aufklärung. Die französische Militärspionage machte im Quartier Napoleon gleichfalls ihren Job. Ergo: Die andere Seite wusste vom Geschehen und hatte Nichtstun angesagt.
Natürlich tourte via RIAS & Co. eine gewaltige Empörungspropaganda hoch. Aber in Moskau ging kein einziger offizieller Protest der Westmächte ein! Egon Bahr überzeugte sich später in russischen Archiven von diesem Fakt. Zugleich erinnerte er an einen Brief des damaligen Regierenden Bürgermeisters Brandt an Kennedy, worin die Frage nach Gegenmaßnahmen aufgeworfen worden war. »Und Kennedy hatte Brandt brieflich mitgeteilt, dass niemand diese Mauer wegbringen könnte ohne Krieg. Und Krieg will niemand.«
Weder in den »Mauerschützenprozessen« noch bei anderen Aufarbeitern scheint »Die Geheime Verschlusssache 2. Ausfertigung VS-Eing.-Nr. E – 65/61 - Nr. 13/00638 14. September 1961« eine Rolle gespielt zu haben. Es handelt sich um ein Schreiben Iwan Konews als Oberkommandierender der GSSD an den DDR-Minister für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann. Eingeleitet wird dieser Brief mit: »Zur Verstärkung der Bewachung der Grenze der Deutschen Demokratischen Republik und zur Errichtung eines strengen Grenzregimes im Grenzstreifen bitte ich Sie, bei der Lösung dieser Frage unsere Vorschläge und Wünsche zu berücksichtigen.« Wünsche?
Nein, ein sehr detaillierter stabsmäßig aufbereiteter Befehl: »Zur Schaffung von Pioniersperren, die der Deutschen Grenzpolizei zur Verfügung stehen sollen, ist es angebracht, einen Geländestreifen von 30 m Breite zuzuweisen, der bis zu einem Kilometer von der Grenze entfernt ist. In diesem Streifen sind Drahtsperren, Minenfelder, Signalvorrichtungen, Beobachtungstürme und ein Kontroll- und Patrouillenstreifen anzulegen.« In den Dienstanweisungen sei »es notwendig, die Ordnung für die Anwendung von Waffengewalt an der Westgrenze und der Grenze zu den sozialistischen Ländern sowie im Seeabschnitt und am Ring um Großberlin abzugrenzen.«
Diese Quelle im Bundesarchiv-Militärarchiv Strausberg (AZN 32595, BI. 66-68) belegt, dass die DDR-Staatsgrenze West zur Bundesrepublik und die »Mauer« in Berlin für die UdSSR und die Staaten des Warschauer Vertrages als Systemgrenze zum westlichen Nato-Bereich galten. Die »innerdeutsche Grenze« war ein Konstrukt des Kalten Krieges, eine historische und zeitgenössische Lüge wie in rechtshistorischen Betrachtungen nachzulesen ist (Dr. Klaus Emmerich »Staatsgrenzen im Kontext ihrer Zeit – rechtshistorische Betrachtungen«, 2017, Books on Demand). Sie hatte Tote und Verletzte zur Folge. Jeder war einer zu viel. Dass die DDR jenen, die ihr den Rücken kehren wollten, keinen roten Teppich ausrollte, könnte zumindest in Anbetracht der Kosten einer fundierten Berufsausbildung oder eines Studiums erklärlich sein. Trotzdem konnten zwischen 1973 und 1983 jährlich durchschnittlich 9.000 Menschen aus der DDR legal in die Bundesrepublik übersiedeln. Zwischen 1984 und 1988 waren es rund 113.000, denen die »ständige Ausreise« erlaubt wurde (vgl. https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-krisenmanagement/niedergang-der-ddr/ausreise.html).
Damals wie heute gilt nur einer als generell Schuldiger: Stalin. Wenn ja, dann in dem Sinne, dass er vor, in und nach Potsdam den Verbündeten vertraute und annahm, sie würden das internationale Abkommen Punkt für Punkt einhalten. Ein Trugschluss wie später bei Gorbatschow. Russland und Russophobie dominieren wieder das westliche Feindbild und haben sich um China erweitert. Die Bundesrepublik Deutschland und ihr Noch-Außenminister Heiko Maas (SPD) zündeln im Team der Machthaber im Weißem Haus eifrig mit. Es droht weit Schlimmeres, als es Mauern jemals sein können. Präsident Biden prophezeit offenherzig einen Krieg gegen China und Russland wegen angeblicher Cyberattacken. Die Folge wäre der Super-GAU.
Nicht nur der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) sollte etwas gegen seine historische Unbildung unternehmen. Die Mauer hatte nämlich viele Väter – lange vor dem 13. August 1961.