In Italien haben bei den Regional- und Gemeindewahlen am 20./21. September und bei den folgenden kommunalen Nachwahlen wieder alle gewonnen und alle verloren – je nach der Perspektive und je nachdem, auf welchen der vorherigen Wahltermine man die Ergebnisse der Regionalwahlen projiziert. Stärkste (un-)politische Kraft bleiben in jedem Fall die Nichtwähler mit über 40 Prozent – landesweit.
Wahlen fanden in den 20 Regionen bis in die 90er Jahre alle fünf Jahre fast gleichzeitig statt und wurden meist auch als nationaler Test gesehen. Doch nach dem Zusammenbruch des Parteiensystems ab 1992 wurde auf allen Regierungsebenen das bisherige Verhältniswahlrecht zugunsten von Mehrheitswahlmechanismen verändert. Berlusconis Regierungen waren federführend bei den Verfassungsänderungen zugunsten präsidialer Regierungssysteme auf allen Ebenen. Die seit 1995 durch einfache Direktwahl erkorenen regionalen Präsidenten agieren denn auch mehr und mehr als sogenannte governatori/governors im propagierten US-Jargon und werden heute großenteils schon überwiegend von eigenen Bürgerlisten gewählt. Dass diese auch nach mehr regionaler Autonomie strebende Entwicklung die immer schwächeren nationalen Regierungen zu unterminieren droht, liegt auf der Hand. War das Land 2015 noch in 16 von 20 Regionen von Mitte-links-Koalitionen regiert, so ist es heute genau umgekehrt. Seit 2016 hat sich die Lega unter Matteo Salvini landesweit ausgebreitet und regiert heute – neben anderen Rechtskoalitionen – in 16 von 20 Regionen.
Beim jüngsten Wahlgang ging es also vor allem um die Frage, ob der Trend gestoppt und in den beiden wichtigen Hochburgen der einstigen Linken – Toskana und Apulien – die Stellung der Demokraten (PD) gehalten werden kann.
Andernfalls wollte das Rechtsbündnis, in dem sowohl Salvinis Lega als auch Berlusconis Forza Italia Stimmen an Giorgia Melonis rechtsextreme Fratelli d’Italia verloren, anschließend nationale Neuwahlen erzwingen, da die Zusammensetzung des nationalen Parlaments (mit noch 32 Prozent 5-Sterne-Bewegung/M5S seit 2018) längst nicht mehr dem heutigen Wählerwillen entspricht. M5S kann regional und kommunal nur noch auf Zustimmung im einstelligen Bereich verweisen. Dort war M5S allerdings auch vorher während ihres nunmehr zehnjährigen Bestehens fast nirgends verankert.
Da jetzt nurmehr die Region Marken in Mittelitalien an die Rechte verloren ging, fühlen sich die Demokraten (PD) indirekt bestärkt in der amtierenden nationalen Regierungskoalition mit der weiter geschwächten 5-Sterne-Bewegung unter Regierungschef Conte. M5S muss eine Niederlage eingestehen und droht sich wieder einmal zu spalten, denn die ursprünglich rabiate Anti-Establishment-Bewegung soll sich nun definitiv zu einer Regierungspartei in Umarmung mit den Demokraten mausern – wenn sie mit Luigi Di Maio denn weiter regieren will. Darin sehen die Anhänger der »Bewegung« eine tödliche Gefahr, erheben alte Forderungen gegen ein Regierungsbündnis und neue für einen politischen Neuanfang. Anfang November soll es eine Klärung mit der Basis über die Internet-Plattform Rousseau geben. Auch die Demokraten wollen sich auf ihrem Parteitag Anfang Dezember neu sortieren. Die noch mitregierenden kleinen Linksparteien wurden von den Wählern ebenfalls nicht gestärkt und zittern nun vor einer angekündigten 5-Prozent-Sperrklausel im zu reformierenden Wahlrecht.
Im Widerspruch zum jüngsten Wählerwillen fühlen sich M5S und vor allem Di Maio durch das gleichzeitige landesweite Referendum bestätigt, bei dem 70 Prozent der Stimmen auf die Verringerung der Abgeordnetenzahl von insgesamt 945 in beiden Kammern auf künftig nur noch 600 entfielen. Die populistische Forderung aus dem frühen Kampf von M5S gegen »die da oben« fand heute große Zustimmung vor allem in rechten Kreisen, die das Parlament zugunsten der Exekutive noch weiter zurückdrängen möchten, letztlich immer im Hinblick auf eine langerstrebte Präsidialrepublik.
Nun steht die vorerst gerettete, aber nach wie vor heterogene Regierung Conte II also vor komplexen Aufgaben, die keinen Aufschub erlauben: die überfällige Wahlrechtsreform einleiten – mit nun auch nötiger Neudefinierung aller Wahlkreise – und den Corona-Haushalt 2021 mit weiterer Schuldenaufnahme in Erwartung der Gelder des EU-Wiederaufbaufonds verabschieden. Dafür wurden schon Hunderte Projekte für dringend nötige Investitionen im ganzen Land zusammengetragen, die stark reduziert und in Grundzügen Mitte Oktober in Brüssel eingereicht werden mussten, um von dort irgendwann 2021 die Millionen beziehungsweise Milliarden zu erhalten, auf die alle hoffen und bauen. Angesichts dessen erhob Carlo Bonelli, Präsident des italienischen Arbeitgeberverbands, gerade lauthals seine Stimme gegen den Ausbau dringend nötiger sozialer Hilfsmaßnahmen. Er fordert stattdessen weitere Staatshilfen für die Industrie, die dann Arbeitsplätze schaffen soll. Seit März 2019 gibt es ein Bürgergeld (Reddito di cittadinanza) für Arme (Zuschüsse von durchschnittlich rund 500 Euro monatlich), das von M5S durchgesetzt wurde und eine magere Kopie von Hartz IV ist. Es soll auch Arbeitslose in die Arbeit zurückführen, nur fehlen dafür nicht nur funktionierende Vermittlungsstrukturen, sondern vor allem die Arbeitsplätze selbst. Immerhin erreicht es etwa 2,8 Millionen Bedürftige und hat deren Überleben bisher auch in der Coronakrise gesichert. Um die Sozialhilfen zu verbessern, wäre die inhaltliche Übereinkunft einer Regierungskoalition nötig, doch damit tun sich die Politiker schwer, ebenso bei einer anstehenden Steuerreform. Es ist bisher noch keiner der 66 Regierungen des Landes seit dem Krieg gelungen, die endemische Steuerflucht zu begrenzen, die der Allgemeinheit jedes Jahr mehr als 110 Milliarden Euro entzieht. Wenn die Gelder dem Staatshaushalt zur Verfügung stünden beziehungsweise seit Jahrzehnten gestanden hätten, gäbe es keine Staatsverschuldung heutigen Ausmaßes und kein skandalöses Verkommen der Infrastrukturen. Allein jüngste Unwetter haben in Norditalien wieder halbe Landstriche weggespült!
Für die Zukunft sind vor allem weniger prekäre Arbeitsbedingungen wichtig – aber in dieser Frage möchten alle Unternehmer weiterhin möglichst freie Hand haben. Die Gewerkschaften halten dagegen, und die Metaller kündigten eine Streikserie ab November an, um endlich ihre seit langem eingefrorenen Löhne zu überwinden. Überhaupt stehen neue Tarifverträge seit langem an, zum Beispiel die der Angestellten im privaten Gesundheitswesen seit 14 Jahren!
Die Schwierigkeit eines nötigen Perspektivwechsels lässt sich am Beispiel Venedigs illustrieren. Dort stand die Stadtregierung mit ihrem 2015 nur knapp gewählten Bürgermeister Luigi Brugnaro (s. Ossietzky 11/15 und 14/15) jetzt erneut zur Wahl – ein Klein-Berlusconi vom venezianischen Festland. Er will die zerstörerische touristische Monokultur der Stadt keineswegs rückbauen, etwa durch Schaffung alternativer Arbeitsplätze. Dies wäre zum Beispiel durch eine Neustrukturierung des größten europäischen, weitgehend brachliegenden und kontaminierten Industriegebietes von Marghera am Festland möglich. Der Bürgermeister will hingegen das ausgedehnte venezianische Festland am bisherigen – zum Teil durch Corona eingebrochenen – Venedig-Boom teilhaben lassen und lässt also weitere touristische Kapazitäten planen und bauen. Die Bodenpreise sollen dann wieder steigen, und auch die großen Kreuzfahrtschiffe sollen weiter nach Venedig fahren dürfen, zwar nicht mehr am Markusplatz vorbei, aber doch durch die Lagune bis zum Anlegeplatz in Porto Marghera. Die Festland-Venezianer haben Brugnaro mehrheitlich wiedergewählt, nur in der Wasserstadt überwog knapp ein eher blasser Kandidat der Demokraten, aber diese Partei hat hier auf lange Zeit verspielt, denn sie wird hauptsächlich mitverantwortlich gemacht für den fortwährenden Skandal um das noch unvollendete Hochwasserschutzprojekt MoSE (Modulo Sperimentale Elettromeccanico). Das Sturmflutsperrwerk hat die Stadt zwar kürzlich probeweise erstmalig vor einer kleinen Flut geschützt, aber die Funktion ist noch immer nicht gesichert, die offizielle Abnahme fehlt noch. Das bedeutet einen weiteren Aufschub der Inbetriebnahme bis Ende 2021. Eine nennenswerte alternative Linke konstituierte sich in der Stadt nicht, sieben bunte Listen verschiedenster Bürgerinitiativen warben für unterschiedliche Kandidaten.
Überhaupt zeigte der jüngste Wahlgang wieder deutlich, dass die meisten Kandidaten für die Landeschef- und Bürgermeisterposten mit großem Ego auf persönlichen Listen reüssieren – eine klare Folge des Niedergangs eines repräsentativen Parteiensystems. In den großen Städten (besonders Rom, Mailand, Turin, Neapel, Bologna), die im Frühjahr 2021 ihre Bürgermeister neu wählen, bringen sich die nächsten Kandidaten schon in Stellung.
Auch diese Entwicklung hatte Rossana Rossanda, eine der originellsten politischen Denkerinnen und gleichzeitig eine ungebrochene kommunistische Aktivistin, seit Jahrzehnten vorhergesehen. Sie starb – luzide bis zum Ende – mit 96 Jahren in der Nacht zum 20. September, dem Wahltag, in Rom. Am 24. September gedachten ihrer stundenlang Hunderte Mitstreiter, Anhänger und Leser des von ihr vor 50 Jahren gegründeten manifesto auf einem großen Platz in Rom.