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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Musik vor dem Untergang

Den Spaß­vo­gel nimmt man Tho­mas Böh­me nicht leicht ab, obwohl er einer ist. Kein moder­ner aller­dings, der mit selbst­be­stä­ti­gen­dem Geki­cher sei­ne Äuße­run­gen beglei­tet, son­dern in Gestalt des Kla­vier­stim­mers auf der »Tita­nic« auf­tritt: Als Feuch­tig­keit ein­dringt, wird er gebraucht. So viel­leicht auch der Dich­ter? Der »AM RAND DES ZERFALLS« steht und weiß, dass die Welt so ist: »Es gibt kei­ne Far­ben mehr /​ die nicht zugleich Far­ben des Krie­ges sind.« Rück- und Vor­aus­blicke auf Unter­gän­ge also? Gewiss. Und zugleich nicht. Denn in den »EINFLÜSTERUNGEN«, dem letz­ten Gedicht des Ban­des, liest man: »Ja, du schaffst es auch ohne Gewin­sel /​ […]. /​ Sieh nur, die Wol­ken­decke reißt auf. /​ Irgend­wo plärrt immer eine ver­beul­te Posaune.«

So lässt sich Musik zum Unter­gang aus­hal­ten, selbst der Gedan­ke an des­sen Unver­meid­lich­keit. Denn: Es wird dar­aus oft Zuver­sicht, Freu­de an der Welt bezo­gen und auf den Leser über­tra­gen. Böh­me bleibt nicht am Zer­falls­rand ste­hen, son­dern nimmt uns mit in sei­ne Welt. Die­se ist weit, sie reicht von Got­land bis weit in den Süden, von einem Mor­gen in Vis­by in die Sema­na San­ta in Sevilla.

Musik, Phi­lo­so­phie, Kunst bil­den oft den gei­sti­gen Hin­ter­grund ein­dring­li­cher Gedich­te: Bach, Bruck­ner, Reger klin­gen auf; der Maler Pech­stein und Nietz­sche wer­den beschwo­ren, auch J. Bobrow­ski in einem lako­ni­schen Vier­zei­ler, und wenn Tho­mas Böh­me statt »unvor­stell­bar für ihn« unvor­stell­bar für mich geschrie­ben hät­te, dann wäre es, als stem­me sich jener selbst brum­mig gegen das »sang­lo­se« Ver­schwin­den von »Namen«.

Übri­gens wird Phi­lo­so­phie im Kapi­tel »ZEIT-LUPEN« auch ganz prak­tisch betrie­ben, mit Gedan­ken über Sin­gu­la­ri­tät und Entro­pie. Und weil das Kla­vier für den Tanz auf der »Tita­nic« da schon fast gestimmt ist, darf man sich amü­sie­ren über das bos­haf­te Aper­çu, dass die »Zeit« drei auch nament­lich genann­ten Pop­sän­gern »ihr barm­her­zi­ges Lei­chen­hemd über­ge­streift« habe. Doch eröff­net Böh­me auch ganz ande­re Per­spek­ti­ven: In einem der inten­siv­sten Tex­te des Ban­des, »DAS GEPÄCK MEINES VATERS«, spricht er dar­über, wie ihm an einem Som­mer­tag die Nach­richt vom Tod sei­nes Vaters über­bracht wird: »Am Bade­strand hät­ten sie ihn aus dem Was­ser gezo­gen.« Per­sön­li­che Gegen­stän­de sind ent­ge­gen­zu­neh­men. Der Woh­nungs­schlüs­sel steckt in der »hin­te­ren Tasche der noch kaum ver­bli­che­nen Blue­jeans«. So ein­dring­lich lässt sich ein gan­zes Leben mit­tei­len, ein Lebens­en­de auch. Der über­aus exak­te, fast peni­ble Wort­ge­brauch Böh­mes ist es, der sol­che Ener­gie und Bild­haf­tig­keit erzeugt.

Man muss den Autor bewun­dern für sei­ne Fähig­keit, lyrisch zu erzäh­len. Etwa in dem Gedicht »NOVEMBER 1970«, wun­der­bar plat­ziert in der Mit­te des Buches, in dem in ter­zi­nen­ar­ti­gen Stro­phen ein Selbst­por­trät an einem Umzugs­tag ent­wor­fen wird: »Ich sit­ze mit kurz­ge­schnit­te­nen Nägeln am Tisch«, wäh­rend die Hän­de ziel­los und die Beat­les Across the Uni­ver­se sind.

Die Inten­si­tät der Tex­te kor­re­spon­diert treff­lich mit drei Holz­schnit­ten von Felix M. Furtwäng­ler.

Tho­mas Böh­me: »Kla­vier­stim­mer auf der Tita­nic«, Gedich­te, Edi­ti­on Orna­ment im quar­tus Ver­lag Bucha, 104 Sei­ten, 15,90 €