Wer das Glück hatte, dem Komponisten, Dichter und politisch engagierten Mikis Theodorakis zu begegnen, spürte seine Menschenfreundlichkeit, seine Gesprächsbereitschaft, seine Herzlichkeit, empfand die große Aura dieses Mannes.
Theodorakis wird 1925 geboren. 14 Jahre ist er alt, als der Zweite Weltkrieg, 21 Jahre als der griechische Bürgerkrieg beginnt, an dessen Ende er als Partisan gegen deutsche und englische Besatzer kämpft. Man wirft ihn in Gefängnisse, bringt ihn in Verbannungslager nach Ikaria und Makronisos. Hier notiert er auf ihm heimlich zugestecktem Papier Aufzeichnungen für seine erste Sinfonie. Vorübergehend freigelassen, schreibt er seine 11 Präludien für Klavier. In einem meiner Athener Gespräche frage ich ihn, warum er nicht 12 Präludien wie Bach, Chopin oder Schostakowitsch komponiert habe. Er entgegnet: »Die Antwort ist einfach, nach dem 11. Präludium wurde ich verhaftet.« Die »Wunde Makronisos« verheilt in der griechischen Gesellschaft nur langsam und reißt 1967 mit dem Putsch der Militärjunta wieder auf. Theodorakis ruft sofort zum Widerstand auf und kämpft im Untergrund gegen die Militärdiktatur. Er komponiert die »Lieder des Kampfes«, wird verfolgt, gefasst und wieder eingekerkert. Sartre, Schostakowitsch, Dessau, Henze, Costa-Gavras, Belafonte u.a. erreichen mit ihren Aufrufen, dass Theodorakis 1970 Zuflucht im Pariser Exil findet. 1971 besucht er, auf Einladung des chilenischen Präsidenten Allende, Chile. Nach seiner Rückkehr komponiert Theodorakis mehrere Teile von »Canto general« und stellt dem Dichter Pablo Neruda, der als Botschafter der Allende-Regierung in Frankreich arbeitet, zusammen mit Maria Farantouri und Petros Pandis, die ebenfalls im Pariser Exil leben, die ersten Teile des begonnenen Oratoriums vor.
In Lagern und Gefängnissen lernt Theodorakis von Mithäftlingen die demotische und laizistische Musik kennen, die Volksmusik des Landes und der Städte, und den Rembetiko mit seinen damals in der herrschenden Schicht verpönten Instrumenten, der Buzuki und der Baglama, der kleinen Buzuki. In dem 1956 komponierten Liederzyklus »Epitafios« instrumentiert Theodorakis seine Lieder mit diesen Instrumenten, was in Griechenland Proteste und eine starke Ablehnung seitens der dort Herrschenden hervorruft. Zu dieser Zeit studiert Theodorakis nach seinem Kompositionsstudium in Athen in Paris zum zweiten Mal Komposition. Und er nimmt in Moskau an einem Komponistenwettbewerb teil, in dem ihm eine mit Hanns Eisler, Darius Milhaud und Dmitri Schostakowitsch besetzte Jury die Goldmedaille zuspricht.
Der so ausgezeichnete Theodorakis sucht nun entschieden den Dialog mit den Menschen, wünscht die sogenannte reine Musik zu entideologisieren. Er verlangt von Medien und Kulturinstitutionen, den Künstler nicht vom realen Leben fernzuhalten und auf jeden Starkult zu verzichten. Und er sucht die Wurzeln der griechischen Musikkultur, deren Identität nach fast 400 Jahren osmanischer Besetzung erst wieder hergestellt werden muss. Als Ergebnis kreiert Theodorakis das »künstlerische Volkslied« als eine neue Musikgattung, in der er große Poesie mit schlichter Kompositionstechnik verbindet. Über 1000 Lieder entstehen im Laufe seines Lebens, Lieder, die den Menschen in ihrem Schmerz und in ihrer Trauer, verursacht durch gesellschaftliches Unrecht, helfen und sie in ihrem Drang nach Freiheit beflügeln. In ihnen finden sie sich wieder. Sie, die oftmals nicht das Glück hatten, Bildung zu erlangen, singen plötzlich große Literatur, ohne zu wissen, wer die Liedtexte gedichtet hat. Durch sie werden die Menschen stärker und reicher. Sie singen Theodorakis Lieder auf der Straße, in Tavernen und Konzertsälen.
Während meiner Klavierabende in Athen, Nikosia, Limassol, und Chania, mit Werken von Beethoven und Theodorakis, summen die Zuhörer bei den vorgetragenen Bearbeitungen von Theodorakis die Melodien mit. Ihnen gehören diese Lieder, in all ihrer Ausdrucksstärke und Schönheit. »Der große Wert der Kunst«, schreibt Theodorakis in seinem Essay »Für eine Kunst im Dienste des Fortschritts«, »besteht gerade darin, dass sie die Schönheit des Lebens deutlich macht und den Menschen lehrt, das Schöne aufzunehmen, den Sinn seines Daseins, und das Wesen seiner Umwelt tiefer zu erfassen. Zu allen Zeiten war dazu nur wahrhaft große Kunst imstande. Alle großen Künstler – von Homer bis Neruda, von Äschylus bis Brecht, von der byzantinischen Musik und Bach bis Bartok und Schostakowitsch, vom Sänger der Antike und dem Minnesänger des Mittelalters bis zum Volksmusikanten unserer Zeit – machten in ihrem Schaffen das Wesen der uns umgebenden Wirklichkeit sichtbar. Ihre Werke sind die Krönung der ästhetischen und künstlerischen Werte, der Leistungen der Kunst in den einzelnen Epochen.«
Die politischen und sozialen Bedingungen blockieren in Griechenland im 20. Jahrhundert die Ideen von Fortschritt und Aufklärung. Sie finden keinen Ausdruck in Wissenschaft und Philosophie, jedoch in der Dichtung und der Volksmusik. Der Reichtum der griechischen Volkslieder zeigt die Verbundenheit und Nähe zu den Sorgen und Nöten der Menschen, zu ihrem Freiheitswillen, und zeigt den Kampf der Griechen für Unabhängigkeit. In diesen Liedern bewahrt sich das Gedächtnis der Menschen. Die Volksmusik als Inspirationsquelle bildet nun neben byzantinischer und türkisch-arabischer Musik und westeuropäischen Kompositionstechniken Theodorakis Kompositionsmethode, die den Dialog mit den Menschen öffnet. Theodorakis: »In der Geschichte der Weltkultur waren jene die großen Wegbereiter, die Neues schufen, indem sie Altes schöpferisch überwanden (…). Heute, da die Menschheit eine kritische Zeit durchlebt, muss die Kunst gemeinsam mit den Völkern der ganzen Welt verteidigen, was den Menschen auf der Erde am teuersten ist – den Frieden, der die Voraussetzung für ein erfolgreiches künstlerisches Schaffen bildet. (…) In der weltweiten Antikriegsbewegung spielt die fortschrittliche Kunst eine wichtige Rolle: Sie mobilisiert die Völker unseres ganzen Planeten zum Kampf für eine friedliche Zukunft.« Diese Gedanken von Theodorakis sind auch nach fast vierzig Jahren aktuell, da ihre Inhalte nicht eingelöst, nicht verwirklicht sind. Theodorakis lebte und kämpfte für ein Leben der Menschen in Freiheit und für den Frieden und die Demokratie.
Die Erinnerung an die Menschen, die für die Freiheit ihr Leben opferten, bewahrt Theodorakis in seinen Kompositionen. Er nennt sie die »lebendigen Toten«. Zu ihnen gehörten wie in der 3. Sinfonie, in Epitafios oder der Ballade vom toten Bruder die Mütter der im Freiheitskampf gestorbenen Söhne. Er erinnert an die getöteten Weggefährten und Freunde in seiner 1. Sinfonie. Die Erinnerungen an sie finden sich auch in vielen seiner Lieder. Niemals losgelöst von der sozialen Wirklichkeit drückt seine Musik aber ebenso seine Lebensfreude aus: in Kinderliedern, Liebesliedern, in der Musik zu Film und Ballett von Alexis Zorbas.
Die geistige Trias von Musik, Dichtung und Kampf für ein besseres Leben in Freiheit bestimmte Theodorakis Leben. Sie offenbart das Gleichgewicht zwischen seiner Intuition und seiner gesellschaftlichen Praxis. Nun liegt es an uns, sein Vermächtnis fortzuführen.
Am 2. September 2021 ist Mikis Theodorakis im Alter von 96 Jahren in seinem Haus in Athen gestorben.
Der Autor ist Komponist und Konzertpianist. Er wird 2015 mit seiner Arbeit »Opus magnum – Die musikalische Poetik von Mikis Theodorakis« an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg promoviert. In vielen Konzerten spielt er Kompositionen seines Freundes Mikis Theodorakis.