Die nun seit fünfzehn Monaten herrschende Corona-Pandemie ist nicht nur eine gesundheitliche Katastrophe für die gesamte Menschheit. Sie bedroht nahezu alle Bereiche unseres Zusammenlebens. Die sonst eher aus religiösen Kontexten entstammende Begrifflichkeit der »Allmacht« vermag gegenwärtig vielleicht am besten zu beschreiben, mit welcher Wucht die Krise in unser Leben hineinwirkt. Einige Annahmen über Ursprung und Verlauf von COVID-19 haben sich im globalen learning-by-doing-Management zu Gewissheiten verfestigt, denen – manchmal mehr, manchmal weniger planbar – mit Impfungen, Lockdowns oder gigantischen Finanztransfers zu begegnen versucht wird. Andererseits werden die offenbar gewordenen Schwächen im Bereich der Wissenschaft, Politik und Wirtschaft weltweit unterschiedlich wahrgenommen.
Entsprechend der jeweiligen historischen und kulturellen Kontexte wird die Pandemieentwicklung von Brasilien bis Indien, von Schweden bis Südafrika, nicht unbedingt als universal erfahrene, global geteilte Leidensgeschichte interpretiert, sondern immer stärker auch als nationalstaatlich zu verantwortende Gesundheitskatastrophe. Dies trifft – für jeden Bundesbürger täglich erlebbar – auch auf Deutschland zu. Die Geschichte unseres Landes ist seit 150 Jahren nachhaltig geprägt von vorheriger jahrhundertelanger feudaler Zersplitterung, von der breiten Akzeptanz antidemokratischer, autoritärer oder totalitärer Herrschaftsformen, von singulären Verbrechen wie der Shoa, dem Vernichtungs- und Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, den territorialen Verwerfungen und Vertreibungen sowie der deutschen Teilung. Es bestehen hier durchaus komplexe Konsensbedingungen in der gesellschaftlichen Diskussion zu kulturellen, geschichtlichen, identitätsbezogenen und nun eben auch pandemiebedingten Fragen. Auffällig an der durch das Infektionsgeschehen verschärften Polarisierung unserer Gesellschaft, die ohnehin geteilt ist in Arm und Reich, Ost und West, Stadt- und Land, Migrationserfahrung und Sesshaftigkeit, Machtzugang und Machtlosigkeit, ist der zusätzliche Spaltpilz einer immer stärker von krisenindizierten Kriterien bestimmten Selbstverortung: Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, Systemrelevanz, Prioritätsgruppenzuordnung oder nun, natürlich, der Impfstatus.
Der Diskursgehalt um die täglich erörterten Fragen, wie der COVID-Krise zu begegnen sei, wie ihr in der Rückschau hätte begegnet werden können und was denn eigentlich noch zu tun sei, verschiebt sich dabei immer mehr von einer gesundheitspolitischen in eine moralische Ebene. Dabei ist die kommunikative Teilhabe der Bevölkerung bisweilen stärker geprägt von opportunistischen Verhaltensmaximen als von individueller Souveränität im Urteil und dem damit verbundenen Wagnis, gegebenenfalls nicht opportune Meinungen in andersdenkender Umgebung zu vertreten. Die Eigendynamik dieser diskurserodierenden Orientierung an den Erwartungshaltungen von gesellschaftlichen Gruppen, Parteiprogrammen, Medien, Berufskollegen oder gar Familienangehörigen führt in eine kommunikative Totalität, die den geistigen Austausch einer offenen Gesellschaft zum Erliegen bringen kann. Nichts illustriert diese individuelle Selbstentmachtung zugunsten der den demokratischen Grundkonsens vorgeblich verteidigenden Selbstermächtigern besser als die erbärmliche gesellschaftliche Performance während der »Macht-alles-dicht«-Satire. Diskussionswürdig daran war nicht primär das künstlerische Hinterfragen gegenwärtigen Krisenmanagements, sondern die Reaktion der sogenannten »kritischen Öffentlichkeit«. Die Videoclips wurden mit dem sofortigen Bannfluch jener belegt, die sich als moralisch überlegene Demokraten wahrnehmen.
Doch Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden. Mit Rosa Luxemburgs universell gültiger Maxime haben aufrechte Demokraten, zu denen sich der Autor selbstverständlich zählt, oft durchaus ihre Schwierigkeiten. Dann nämlich, wenn die Freiheit der Andersdenkenden zur schleichenden Abschaffung der eigenen Spezies führt. Noch trauriger bei »allesdichtmachen« war jedoch die Entscheidung einiger TeilnehmerInnen, ihren Beitrag zurückzuziehen. Die Furcht vor dem Beifall von falscher Seite führte dann zum wohlgefälligen Applaus derjenigen, die bequem in den Rückzugsräumen ihrer eigenen, sich als moralisch integer empfindenden Gruppen verharrten. Was täte man, wenn auf den Ausruf »Die Erde dreht sich um die Sonne« der Beifall der AfD folgte? Ließe man den Geozentrismus aus Schicklichkeit neue Urständ feiern? Was aber wird aus einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, die letztlich nur noch sich selbst beklatscht?
Diese Frage können wir Deutschen mit Blick auf unsere jüngere Geschichte wohl tatsächlich besser als andere Völker beantworten – und dies ganz ohne Selbstüberhebung. Doch die Frage »Bist du für uns oder gegen uns?« ist und bleibt eine totalitäre Anmaßung, eine Aufforderung zum Bekenntniszwang, der wiederum mit einer Verinnerlichung demokratischer Grundwerte nichts gemein hat. »Wollt ihr den totalen Krieg?«, »Bist du für oder gegen den Weltfrieden?«, »Denkst du denn gar nicht an die vielen Corona-Toten?« sind zugegebenermaßen geschmacklos aneinandergereihte, nicht miteinander vergleichbare, aber dennoch suggestive Instrumentalisierungen einer Moral, die diesen Namen nicht verdient. Die kommunikativen Konstituenten der öffentlichen Debatte werden geprägt von Stigmata: von »Gutmenschen«, »Nazis«, »Ökofaschisten«, »Corona- oder Klima-Leugnern« – kategorisierenden Operatoren also, die nicht zuerst der Ausgrenzung des Anderen, sondern zunächst der Anbiederung an die eigene moralisierende Meute dienen. Dazu gesellt sich die schleichende Militarisierung einer offiziellen Verlautbarungssprache, die mit »Pakten«, »task forces«, »Stabsstellen« und »Impfoffensiven« einen Aktionismus verspricht, der die zuvor medial erzeugten Ängste und Befürchtungen der Öffentlichkeit zu beschwichtigen sucht.
Der seit der Aufnahme von knapp einer Million Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016 nicht mehr abreißenden Hinwendung vieler Mitmenschen zu rechtskonservativen, verschwörungstheoretischen bis zu offen rechtsradikalen Denkschemata hat neben dem Verschwinden unserer Welt, wie wir sie kennen, auch etwas damit zu tun, wie man mit Halt suchenden Menschen spricht, bevor sie für immer in den Orkus des Irrationalen entgleiten. Gegenwärtig ist die kommunikative Waffe der sich für gebildet Haltenden die Polemik, die Entgegnung der sogenannten Bildungsfernen ist die Verbalinjurie. Die sprachliche Verrohung unserer Kommunikation geht einher mit der Unfähigkeit, ja dem Unwillen, überhaupt noch hinzuhören. Wo die eigene Position als unangreifbar, ja moralisch allzeit überlegen proklamiert wird, ist es für den gedanklichen Austausch bereits zu spät. Das betrifft die urbanen Linksliberalen in ihren intellektuellen Ressentiments gegenüber dem brandenburgischen Landei ebenso wie den hessischen Querdenker mit seinem Herrschaftswissen über Bill Gates’ Großprojekt der menschlichen Gesamtverchippung. Doch dieser kommunikative Lockdown (»Mit Nazis diskutiert man nicht« hier, »Lügenpresse auf die Fresse« dort) generiert eine Atmosphäre der permanenten Häme, Verunglimpfung und Herabsetzung auf allen Seiten. Die erste nennenswerte Querfront der bundesdeutschen Öffentlichkeit bildete sich mit der Abwehr der Migrationspolitik. Die jetzige zweite Querfront ist zahlenmäßig ungleich stärker, sozial und politisch ungleich heterogener. Die Pandemie wirkt hier nur noch als katalysierendes Element für den Zusammenschluss einer Menge, deren Diskurs mit der »Rest Gesellschaft« sich längst erledigt hat. Und umgekehrt.
Die zunehmende Diskursmacht der moralisierenden Meuten nagt an den humanistischen Grundfesten unserer Gesellschaft. Es herrscht der Affekt, es verliert der Intellekt. Es wütet die Verschwörung, es verschwindet die Ratio. Corona wird uns noch lange begleiten. Das Virus hat die Welt so schnell verändert, dass wir noch gar nicht in der Lage sind, zu ermessen, welche Folgen in Bildung, Kultur und Gesundheitswesen diese Pandemie für uns alle zeitigen wird. Der zur menschlichen Epidemiegeschichte an der Yale-Universität forschende US-Amerikaner Frank M. Snowden schreibt in seinem 2020 neu aufgelegten Buch »Epidemie und Gesellschaft«: »Eine weitaus passendere Frage ist, ob die Menschheit nach dem Abklingen der COVID-Pandemie zu ihrer Selbstgefälligkeit zurückkehrt oder sich dafür entscheidet, nachhaltige und langfristige Einschätzungen zukünftiger derartiger Herausforderungen zu treffen und die Mittel zu deren Bekämpfung bereitzustellen.« Snowden verweist auf die Unabdingbarkeit globaler Zusammenarbeit aller Staaten und deren Gesundheitsinstitutionen, auf die Bedeutung des Miteinander-Sprechens in der Krise. Gemessen an diesem Anspruch befinden wir uns hier in Deutschland kommunikativ auf dem Weg ins Mittelalter. Möge die Pandemie uns Katharsis genug sein, wieder zu uns selbst zu finden.