Der Ballspielverein Borussia 09, kurz BVB, ist bekannt für seine Weltoffenheit. Er hatte schon in den 70er Jahren farbige Spieler auf dem Platz, so den Sohn eines US-Soldaten und einer Deutschen. Heute befinden sich allein im Profi-Kader des BVB sieben schwarze Spieler. Sie werden im Stadion umjubelt. Der BVB und Dortmund – das sind die Sehnsuchtsziele von Menschen wie Mouhamed Lamine Dramé, 16 Jahre alt, der aus dem Senegal, Dorf Ndiaffate, als unbegleiteter jugendlicher Flüchtender beschwerlich und gefahrvoll angereist war. Sie nehmen alles auf sich, um ein besseres Leben zu haben und um in die Nähe beispielsweise des BVB zu gelangen. Und dann dieser Hass außerhalb des Stadions, in der Nordstadt manifestiert durch die Polizei. Dieser Mord, ja, Mord an Mouhamed, so sehen es viele in der schwarzen Community.
Die Fans des BVB fühlten sich angesprochen. Fangruppen kamen mit einem Riesenbanner ins Stadion: Wortlaut: »Pol Do – Pol Re: Eine Hand wäscht die andere! Unabhängige Kontrolle der Polizei jetzt!« Mit Pol Do und Pol Re war die Polizei in Dortmund und jene in Recklinghausen gemeint. In Recklinghausen starb ein Mensch bei einer Polizeikontrolle, und daher sollte die Dortmunder Polizei in Recklinghausen »unabhängig« ermitteln und die Recklinghäuser in Dortmund dann ebenso »unabhängig«. In einem anderen Stadion, in jenem in Gelsenkirchen-Schalke, brachte man es auf das Kürzel: »Mörder ermitteln gegen Mörder«. Eine unabhängige Kontrollinstanz, um tödliche Polizeigewalt aufzuklären, ist nun die allgemein gültige Forderung im Revier. Was war geschehen?
Am 8. August haben in der Dortmunder Nordstadt zwölf Polizistinnen und Polizisten nicht vermocht, den 16jährigen, aus Senegal stammenden Jungen, der ein Messer bei sich hatte, zu beruhigen und zu entwaffnen. Sie griffen ihn mit Pfefferspray, Tasern und schließlich mit einer Maschinenpistole an, töteten ihn mit einer Salve von fünf Schüssen. Bodycams waren vorhanden, wurden aber nicht eingeschaltet, weil man den »Kernbereich privater Lebensgestaltung« von Cam-Aufnahmen ausnehmen müsse; dazu gehöre ein Suizidversuch. So wurde es zynisch begründet. Schließlich sei der junge Mann gerade aus der Psychiatrie entlassen worden. Wochenlang wurde Stillschweigen geübt, dann sickerte doch durch, dass gegen den 29jährigen Todesschützen und vier die Taser bedienende Polizist:innen ermittelt werde, im Fall des Schützen gar wegen Totschlags. Der Einsatzleiter soll sich wegen Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung verantworten. Straffrei soll die vorgesetzte Behörde bleiben, der Innenminister Herbert Reul (CDU) ohnehin, der die Bewaffnung mit Maschinenpistolen bei solchen Einsätzen angeordnet hat.
Dies sind alarmierende Meldungen, die auch an die folgenden denken lassen:
Mitte Juli mussten acht Polizisten aus Münster vorläufig »freigestellt« werden, weil sie einer rechtsextremen Chatgruppe angehören. Sie hatten – wie schon vorher in Essen und Mülheim enttarnte Gruppen von Polizisten – sich gegenseitig rassistisch aufgehetzt. Gruppen wie sie bereiten sich auf den »Tag X« vor, um Deutschland den Deutschen zu sichern. Es ist nun zu fragen: Gehörten auch die in der Dortmunder Nordstadt eingesetzten Polizisten solchen Gruppen an? Gehörten sie zu den auf dem neonazistisch geführten Schießplatz in Güstrow ausgebildeten Dortmunder Polizeieinheiten? Im Falle der 72 Essener und Mülheimer Chatmitglieder sind laut einem Bericht des Innenministeriums die Verfahren abgeschlossen und zwar mit keinen oder nur schwachen Sanktionen. Sechs Kommissaranwärter und zwei weitere Personen wurden entlassen. Alle anderen dürfen weitermachen.
Doch nicht nur geheime Chatgruppen, sondern auch ganz offen geduldete Handlungen des racial profilings sind alarmierend. Und auch solche Erklärungen, wie die des Landesinnenministeriums, sind skandalös. Es betonte die Zulässigkeit aller in Dortmund angewandten Waffen, auch MPs sollten in keinem Polizeiauto fehlen. Das sind immerhin Kriegswaffen.
Die Dortmunder Nordstadt ist immer wieder Schauplatz von Handlungen der Polizei gegen mutmaßlich verdächtige Ausländer. Die tödlichen Schüsse vom 8. August 2022 sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die von massiven Unterdrückungshandlungen der kommunalen Ordnungskräfte und der Polizei auf der einen und vom Opferstatus meist ärmerer Menschen in den »abgehängten« Stadtteilen auf der anderen Seite geprägt ist. Dortmund ist eine Stadt, in der in einem Stadtteil 124 Straßen und Plätze von der Polizei als »gefährlich und verrufen« eingeordnet und die dortigen Beamten mit Sonderrechten ausgestattet wurden. Mit den bekannten Folgen: Ständige anlasslose Personenkontrollen. Handys dürfen ohne richterliche Anordnung ausgewertet werden, unangenehme Aufnahmen können so verschwinden. Sogar die Mitarbeiter des Ordnungsamtes fuchteln in der Nordstadt mit Schlagstöcken herum.
Genährt wurde diese Entwicklung durch die Verschärfung der Polizeigesetze in ganz NRW, martialische Auf- und Ausrüstung von Ordnungs- und Polizeikräften, sukzessive Einschränkung der individuellen Freiheitsrechte durch einen Staat, der überall ein »Sicherheitsproblem« erblickt, das mit aller Gewalt gelöst werden muss. Seit Antritt der CDU-Regierung werden dementsprechend Polizei- und Ordnungskräfte systematisch aus- und aufgerüstet. Die Wachsamkeit der Grünen gegen eine solche Entwicklung geht gegen Null, seit sie mit in der Landesregierung sitzt.
Was passiert morgen? Man bedenke: Die Aufarbeitung des NSU-Terroreinflusses in Dortmund unterblieb bis heute. Die sofortige Entlassung der »rechtsextremistischen« Polizeikräfte, deren Existenz selbst vom Innenministerium immer wieder eingeräumt wird, ist fällig, aber sie unterbleibt zumeist. Die Beamten haben einen Eid auf die Verfassung abgelegt und sind gesetzlich verpflichtet, »sich durch ihr gesamtes Verhalten, d. h. inner- und außerdienstlich zur demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhalt einzutreten«. Würde dies eingehalten, Mouhamed wäre noch am Leben.