Es gab sie zu Hunderttausenden in Deutschland und anderswo – die von Daniel Goldhagen als »Hitlers willige Vollstrecker« bezeichneten verbohrten Nazianhänger, die zu allem Ja und Amen sagten, wenn es um die Vernichtung des Judentums ging. An der Umsetzung des teuflischen Planes mitwirken zu können, sei es als Schreibkraft eines KZ-Kommandanten oder als Wachmann in einem der Todeslager, war ihnen eine Ehre. Ich habe diese Sorte Menschen während der Nazizeit zur Genüge kennen gelernt und muss sie bis heute mitsamt ihren politischen und juristischen Helfershelfern ertragen.
Die Bundesrepublik Deutschland war gerade mal sieben Jahre alt, als der Bundesgerichtshof der in einem Meer von Blut und Tränen untergegangenen Nazidiktatur eine Art von Generalabsolution erteilte. Im Freispruch für einen SS-Richter erklärte er: »In einem Kampf um Sein oder Nichtsein sind bei allen Völkern von jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden. Auch dem nationalsozialistischen Staate kann man nicht ohne weiteres das Recht absprechen, dass er solche Gesetze erlassen hat« (Urteil vom 25. Mai 1956).
Da mochten sich die Staatsanwaltschaften noch so abstrampeln, bei so viel Verständnis für das Unrechtsregimes der Nazis wurde es nahezu unmöglich, Schuldige zur Rechenschaft zu ziehen. Trotzdem gelang es dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, einige Beteiligte an dem Massenmord von Auschwitz vor Gericht zu bringen. Sein Versuch, sie und ihresgleichen wegen Mittäterschaft zu belangen, scheiterte allerdings an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Nicht jeder, der in das Vernichtungsprogramm eingegliedert und »irgendwie anlässlich des Programms tätig« geworden sei, sei objektiv an den Morden in Auschwitz beteiligt gewesen und für alles Geschehene verantwortlich (Urteil vom 20. Februar 1969).
Damit wurde der weiteren Verfolgung von Mitverantwortlichen für die Ermordung von sechs Millionen Juden praktisch der Boden entzogen. Die Staatsanwaltschaften stellten sämtliche Ermittlungsverfahren gegen SS-Wachmänner wegen Aussichtslosigkeit ein, auch das gegen den später doch noch verurteilten SS-Buchhalter von Auschwitz, Oskar Gröning. Es musste erst eine neue Richtergeneration heranwachsen, ehe 2011 der SS- Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk, wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. Da er vorzeitig starb, konnte das Urteil nicht rechtskräftig werden. Erst im Fall Gröning erlangte eine Verurteilung ohne konkreten Tatnachweis Rechtskraft.
Dazu musste sich der BGH erst aus den Fallstricken des Urteils aus dem Jahr 1969 befreien, mit denen die Verfolgung von Naziverbrechen praktisch lahmgelegt worden war. Er argumentierte, der »Buchhalter von Auschwitz« sei nicht irgendwie anlässlich des Vernichtungsprogramms tätig gewesen. Vielmehr hätten ihm konkrete Handlungsweisen mit unmittelbarem Bezug zu dem organisierten Tötungsgeschehen nachgewiesen werden können (Beschluss vom 20. November 2016).
Wer heute danach fragt, welchen Sinn es macht, einen hundert Jahre alten SS-Wachmann und eine 96 Jahre alte ehemalige Sekretärin eines KZ-Lagerkommandanten vor Gericht zu stellen, der muss sich die Milde der deutschen Justiz gegenüber Hitlers willigen Vollstreckern vor Augen halten. Jahrzehnte lang blieben sie von der Strafverfolgung verschont, weil die Staatsräson es nicht zuließ, das ganze Ausmaß der Kumpanei von Millionen Deutschen mit Hitler vor aller Augen auszubreiten. Als neue Weltmacht brauchte Deutschland eine reine Weste, auch wenn es die Überlebenden des Holocaust noch so sehr schmerzte. Frech behauptete jetzt die angeklagte ehemalige Schreibkraft im KZ-Stutthof, sie habe als 18- oder 19-Jährige nichts getan, wofür sie sich als 96-Jährige zu entschuldigen habe. Der einstige SS-Wachmann im KZ-Sachenhausen, der dort nachweislich in sechs Kompanien gedient hat, stellte sich einfach dumm; er kenne Sachenhausen gar nicht, sagte er vor Gericht. Mitleid, so scheint mir, ist da wohl fehl am Platz.