Gewalt und Radikalität gehörten zu den Themen, die uns als junge Sozialisten besonders bewegten. Es gab während der Ostermärsche durch die Lüneburger Heide ab 1960 spannende Diskussionsrunden mit Kommunisten. Das war sicherlich überall so. In dem Lesebuch für die 10. Klasse »Episoden aus dem Leben großer Menschen«, das in der UdSSR und in der DDR verbreitet wurde, heißt es: »Lenins Bruder Alexander Uljanow machte Wladimir schon früh mit revolutionären Ideen bekannt. Das Studium der Geschichte des Kampfes gegen den Zarismus, die Hinrichtung seines Bruders Alexander wegen der Teilnahme an der Vorbereitung eines Attentates auf den Zaren überzeugten Wladimir Iljitsch, dass nur eine organisierte Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern den Zarismus stürzen konnte.«
Im April 1920 erschien Lenins »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«. Ein heute fast vergessenes Werk, obwohl sehr aktuell. Schon am 14. April 1919 hatte Lenin in einem Interview in der Frankfurter Zeitung ausgeführt, die Hoffnung auf die Weltrevolution nach dem Oktober 1917 sei falsch gewesen. Vielleicht in zehn Jahren sei es so weit; inzwischen gelte es, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen. Bereits damals stellte Lenin also die kommunistische Weltbewegung auf den revolutionären Kampf in nichtrevolutionären Zeiten ein. In der »Kinderkrankheit« kritisierte Lenin die Ablehnung der Gewerkschaftsarbeit und der Arbeit in Parlamenten, ferner die »Kompromisslosigkeit« vieler Linker und das Verständnis für individuellen Terror bei einigen. Die Suche nach »Schritten und Übergängen« wurde nach dem Abflauen der ersten revolutionären Welle nach der russischen Oktoberrevolution zur erstrangigen strategischen Aufgabe. Denn so Lenin: »… ohne eine Änderung in den Anschauungen der Mehrheit der Arbeiterklasse ist die Revolution unmöglich; diese Änderung aber wird durch die politische Erfahrung der Massen, niemals durch Propaganda allein erreicht.«
Dennoch hielten die Kommunisten bis 1933 viel zu lange an der Vorstellung fest, es könnte der revolutionäre Umsturz unmittelbar erreicht werden. Der KPD gelang es daher bis 1933 nicht, den Kurs der reaktionärsten Teile des Großkapitals zur Errichtung der faschistischen Diktatur mit einer breitestmöglichen antifaschistischen Front zu stoppen.
Und heute? Die bürgerliche Demokratie, das Grundgesetz sei nicht der Verteidigung wert, denn ihre Träger wollten dasselbe wie die Faschisten, so klingt es immer wieder bei manchen Linken durch. So deuten sie immer wieder die Beseitigung des Kapitalismus als unmittelbare »Hauptaufgabe« – nicht das breite Bündnis für Demokratie, Klima und Frieden, für Voraussetzungen auf dem Weg zu gesellschaftlichem Fortschritt.
Lenin verurteilte auch den individuellen Terror in der »Kinderkrankheit«. Irgendwelches Verständnis für die RAF, das da und dort heute geäußert wird, das wäre ihm sicher nicht eingefallen. Ich weiß nicht, ob Lenins »Linker Radikalismus« in der politischen Bildung der späten DDR eine Rolle spielte. In den Unterlagen meines Schwiegervaters, der als Gast aus Hamburg im Jahr 1946 am Vereinigungsparteitag SPD-KPD teilgenommen hat, fand ich eine Sammlung von Schriften, die dort allen Teilnehmern übergeben wurden. Darin die Schrift zu den Kinderkrankheiten im Kommunismus.