Kennen Sie einen gehörlosen Menschen, und wenn ja, wie kommunizieren Sie mit ihr/ihm? Viele junge Gehörlose lehnen die Bezeichnung »gehörlos« ab, weil sie suggeriert, ihnen würde etwas fehlen. Sie verstehen sich vielmehr als Sprachminderheit im eigenen Land und möchten »taub« genannt werden. Die Charakterisierung als taubstumm ist veraltet und diffamierend, da taube Menschen eine eigene Sprache besitzen und auch fast immer eine Lautsprache sprechen können. Diese lernen sie in der Schule, und das ist sehr zeitaufwendig und mühsam, da sie die Wörter, die sie artikulieren, nicht hören können. Aus diesem Grund schließen taube Menschen ihre Schulausbildung meistens mit sehr schlechten Ergebnissen ab, was ihre weitere berufliche Entwicklung stark beeinträchtigt.
Diese Art der pädagogischen Intervention hat eine lange Tradition in Deutschland: Im Jahr 1880 wurde in Mailand ein Kongress abgehalten, auf dem darüber abgestimmt wurde, ob taube Menschen manuell (mit den Händen) unterrichtet werden sollten, oder ob die bessere Bildungsmethode nicht sei, ihnen Lippenlesen und Artikulieren beizubringen. Letztere Idee wurde vehement von einem Deutschen namens Samuel Heinicke vertreten und heißt seitdem deshalb auch »die deutsche Methode«.
Nachdem die tauben Menschen auf dem Mailänder Kongress von der Abstimmung ausgeschlossen worden waren, wurde beschlossen, dass fortan nach der oralen deutschen Methode gelehrt werden solle, was das Bildungswesen in Deutschland bis heute bestimmt. Besuchten taube Menschen bis vor 20 Jahren noch mehrheitlich spezielle Sonderschulen (neudeutsch euphemistisch »Förderschulen« genannt), kann man heutzutage zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe betriebenen Einrichtung mit dem »Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation« besuchen. Man fragt sich, was man dort lernt: Hören? Kommunizieren? Hören sicherlich nicht, und kommunizieren können die dort »Geförderten« ja eigentlich schon, und zwar in einer Gebärdensprache, die eben gerade nicht auditiv, sondern visuell ist.
Gebärdensprachen sind nicht international. Es gibt zum Beispiel die Deutsche Gebärdensprache (DGS), die amerikanische (ASL) oder die französische (LSF). Die verschiedenen Gebärdensprachen unterscheiden sich, und es gibt – genauso wie in Lautsprachen auch – Dialekte. Gebärdensprachen haben, linguistisch gesehen, ganz andere sprachliche Mittel als Lautsprachen und sind von diesen auch in keiner Weise abhängig oder abgeleitet. Es handelt sich vielmehr um eigenständige Sprachen. Sie sind zugleich Ausdruck einer eigenen, visuellen Kultur, deren Schöpfungen sich von denen hörender Menschen unterscheiden; ein Beispiel dafür ist Gebärdensprachpoesie: Reime werden eben nicht durch hörbaren Klang, sondern durch gleiche sichtbare Bewegungen oder Handformen erzeugt.
Die hier angesprochene Kultur ist für hörende Menschen vor allem eines: unerhört – und das im doppelten Sinn. Zum einen ist ein gegenseitiges Kennenlernen aufgrund der Sprachbarriere schwierig, und zum anderen werden die Angehörigen der Kultur von der hörenden Mehrheit unterdrückt. Ausdruck dessen sind zum Beispiel die Schwierigkeiten, als tauber Mensch einen Arbeitsplatz zu finden: Die sogenannte Schwerbehindertenquote wird von der Mehrzahl der Unternehmen durch Ausgleichszahlungen einfach umgangen. Ferner haben sich mit der technisch-medizinischen Entwicklung weitreichende Möglichkeiten ergeben, Gehörlosigkeit abzuschaffen. Das Mittel der Wahl ist das sogenannte Cochlea-Implantat, ein in den Kopf hineinoperiertes Gerät, das aus tauben Menschen schwerhörige Menschen macht. Das ist für einige Menschen ein echter Erfolg und eine große Hilfe, andere wiederum lassen sich das Gerät auch wieder herausnehmen, da es bei ihnen konstante Kopfschmerzen verursacht und manchmal sogar zu Eiterungsprozessen im Gehirn führt.
Das ist allerdings kaum bekannt, da Pharmafirmen, Krankenkassen und der gesamte Apparat von Logopäden, Audiologen, Ärzten, Pädagogen und Sozialarbeitern an der »Krankheit Gehörlosigkeit« verdient. Es handelt sich um eine Art moderner Kolonialisierung, die Expertin Harlan Lane spricht von einer Medikalisierung der Gehörlosigkeit, andere nennen es gar Genozid (Julia Probst, Anne Uhlig).
Diese starke Anschuldigung speist sich aus der Tatsache, dass neun von zehn tauben Kindern hörende Eltern haben, für die es sicherlich ein Schock ist, dass ihr Kind taub ist, und die bereit sind, alles für ihr Kind zu tun. Das führt immer häufiger dazu, dass sie hoffnungsvoll einer Cochlea-Implantat-Operation ihres sehr jungen Babys zustimmen (nach dem Motto: »Je früher, desto besser!«). Was sollten sie auch anderes tun, wenn sie keine glücklichen tauben Menschen kennen? Die aber gibt es.