Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Minderheiten als Geschäft

Ken­nen Sie einen gehör­lo­sen Men­schen, und wenn ja, wie kom­mu­ni­zie­ren Sie mit ihr/​ihm? Vie­le jun­ge Gehör­lo­se leh­nen die Bezeich­nung »gehör­los« ab, weil sie sug­ge­riert, ihnen wür­de etwas feh­len. Sie ver­ste­hen sich viel­mehr als Sprach­min­der­heit im eige­nen Land und möch­ten »taub« genannt wer­den. Die Cha­rak­te­ri­sie­rung als taub­stumm ist ver­al­tet und dif­fa­mie­rend, da tau­be Men­schen eine eige­ne Spra­che besit­zen und auch fast immer eine Laut­spra­che spre­chen kön­nen. Die­se ler­nen sie in der Schu­le, und das ist sehr zeit­auf­wen­dig und müh­sam, da sie die Wör­ter, die sie arti­ku­lie­ren, nicht hören kön­nen. Aus die­sem Grund schlie­ßen tau­be Men­schen ihre Schul­aus­bil­dung mei­stens mit sehr schlech­ten Ergeb­nis­sen ab, was ihre wei­te­re beruf­li­che Ent­wick­lung stark beeinträchtigt.

Die­se Art der päd­ago­gi­schen Inter­ven­ti­on hat eine lan­ge Tra­di­ti­on in Deutsch­land: Im Jahr 1880 wur­de in Mai­land ein Kon­gress abge­hal­ten, auf dem dar­über abge­stimmt wur­de, ob tau­be Men­schen manu­ell (mit den Hän­den) unter­rich­tet wer­den soll­ten, oder ob die bes­se­re Bil­dungs­me­tho­de nicht sei, ihnen Lip­pen­le­sen und Arti­ku­lie­ren bei­zu­brin­gen. Letz­te­re Idee wur­de vehe­ment von einem Deut­schen namens Samu­el Hei­nicke ver­tre­ten und heißt seit­dem des­halb auch »die deut­sche Methode«.

Nach­dem die tau­ben Men­schen auf dem Mai­län­der Kon­gress von der Abstim­mung aus­ge­schlos­sen wor­den waren, wur­de beschlos­sen, dass fort­an nach der ora­len deut­schen Metho­de gelehrt wer­den sol­le, was das Bil­dungs­we­sen in Deutsch­land bis heu­te bestimmt. Besuch­ten tau­be Men­schen bis vor 20 Jah­ren noch mehr­heit­lich spe­zi­el­le Son­der­schu­len (neu­deutsch euphe­mi­stisch »För­der­schu­len« genannt), kann man heut­zu­ta­ge zum Bei­spiel in Nord­rhein-West­fa­len die vom Land­schafts­ver­band West­fa­len-Lip­pe betrie­be­nen Ein­rich­tung mit dem »För­der­schwer­punkt Hören und Kom­mu­ni­ka­ti­on« besu­chen. Man fragt sich, was man dort lernt: Hören? Kom­mu­ni­zie­ren? Hören sicher­lich nicht, und kom­mu­ni­zie­ren kön­nen die dort »Geför­der­ten« ja eigent­lich schon, und zwar in einer Gebär­den­spra­che, die eben gera­de nicht audi­tiv, son­dern visu­ell ist.

Gebär­den­spra­chen sind nicht inter­na­tio­nal. Es gibt zum Bei­spiel die Deut­sche Gebär­den­spra­che (DGS), die ame­ri­ka­ni­sche (ASL) oder die fran­zö­si­sche (LSF). Die ver­schie­de­nen Gebär­den­spra­chen unter­schei­den sich, und es gibt – genau­so wie in Laut­spra­chen auch – Dia­lek­te. Gebär­den­spra­chen haben, lin­gu­istisch gese­hen, ganz ande­re sprach­li­che Mit­tel als Laut­spra­chen und sind von die­sen auch in kei­ner Wei­se abhän­gig oder abge­lei­tet. Es han­delt sich viel­mehr um eigen­stän­di­ge Spra­chen. Sie sind zugleich Aus­druck einer eige­nen, visu­el­len Kul­tur, deren Schöp­fun­gen sich von denen hören­der Men­schen unter­schei­den; ein Bei­spiel dafür ist Gebär­den­sprach­poe­sie: Rei­me wer­den eben nicht durch hör­ba­ren Klang, son­dern durch glei­che sicht­ba­re Bewe­gun­gen oder Hand­for­men erzeugt.

Die hier ange­spro­che­ne Kul­tur ist für hören­de Men­schen vor allem eines: uner­hört – und das im dop­pel­ten Sinn. Zum einen ist ein gegen­sei­ti­ges Ken­nen­ler­nen auf­grund der Sprach­bar­rie­re schwie­rig, und zum ande­ren wer­den die Ange­hö­ri­gen der Kul­tur von der hören­den Mehr­heit unter­drückt. Aus­druck des­sen sind zum Bei­spiel die Schwie­rig­kei­ten, als tau­ber Mensch einen Arbeits­platz zu fin­den: Die soge­nann­te Schwer­be­hin­der­ten­quo­te wird von der Mehr­zahl der Unter­neh­men durch Aus­gleichs­zah­lun­gen ein­fach umgan­gen. Fer­ner haben sich mit der tech­nisch-medi­zi­ni­schen Ent­wick­lung weit­rei­chen­de Mög­lich­kei­ten erge­ben, Gehör­lo­sig­keit abzu­schaf­fen. Das Mit­tel der Wahl ist das soge­nann­te Coch­lea-Implan­tat, ein in den Kopf hin­ein­ope­rier­tes Gerät, das aus tau­ben Men­schen schwer­hö­ri­ge Men­schen macht. Das ist für eini­ge Men­schen ein ech­ter Erfolg und eine gro­ße Hil­fe, ande­re wie­der­um las­sen sich das Gerät auch wie­der her­aus­neh­men, da es bei ihnen kon­stan­te Kopf­schmer­zen ver­ur­sacht und manch­mal sogar zu Eite­rungs­pro­zes­sen im Gehirn führt.

Das ist aller­dings kaum bekannt, da Phar­ma­fir­men, Kran­ken­kas­sen und der gesam­te Appa­rat von Logo­pä­den, Audio­lo­gen, Ärz­ten, Päd­ago­gen und Sozi­al­ar­bei­tern an der »Krank­heit Gehör­lo­sig­keit« ver­dient. Es han­delt sich um eine Art moder­ner Kolo­nia­li­sie­rung, die Exper­tin Har­lan Lane spricht von einer Medi­ka­li­sie­rung der Gehör­lo­sig­keit, ande­re nen­nen es gar Geno­zid (Julia Probst, Anne Uhlig).

Die­se star­ke Anschul­di­gung speist sich aus der Tat­sa­che, dass neun von zehn tau­ben Kin­dern hören­de Eltern haben, für die es sicher­lich ein Schock ist, dass ihr Kind taub ist, und die bereit sind, alles für ihr Kind zu tun. Das führt immer häu­fi­ger dazu, dass sie hoff­nungs­voll einer Coch­lea-Implan­tat-Ope­ra­ti­on ihres sehr jun­gen Babys zustim­men (nach dem Mot­to: »Je frü­her, desto bes­ser!«). Was soll­ten sie auch ande­res tun, wenn sie kei­ne glück­li­chen tau­ben Men­schen ken­nen? Die aber gibt es.