Während der Bundestag auf Antrag der Bundesregierung über eine von bewaffneten Kräften ausgeführte sogenannte »militärische Evakuierung« Afghanistan mindestens bis Ende September verhandelte und diese dann mehrheitlich beschloss, führte der Verhandlungsführer der Bundesregierung, Markus Potzel, mit Taliban-Führungskräften in Doha Gespräche über eine sicher teuer erkaufte zivile Evakuierung auch noch über Ende August hinaus. Und keine 24 Stunden nach dem Bundestagsbeschluss kam die Ankündigung, dass die Bundeswehr ihren Evakuierungseinsatz wegen des bevorstehenden Abzugs der US-Streitkräfte vom Flughafen Kabul und wegen der wachsenden Terrorgefahr unmittelbar beenden wird.
Danach erfolgte der Selbstmordangriff im Gedränge der unüberschaubar vielen auf Evakuierung Hoffenden am Abbey Gate des Flughafens. Viele der vor den Gates wartenden Verzweifelten, Hoffenden, Verängstigten und Hoffnungslosen und 13 US-Soldaten wurden Opfer einer für einige Verantwortliche scheinbar überraschenden, aber sicher vorhersehbaren Tat.
Im Zusammenhang mit der Bundestagsdebatte über die militärische Evakuierung warnten Linke wie Sevim Dagdelen noch kurz vor der Bundestagsdebatte im Deutschlandfunk, der Einsatz bewaffneter Kräfte berge nicht absehbare Eskala-tionsgefahren in sich. Die ausländischen Soldaten seien Ziel von Anfeindungen; sie und Menschenmengen in ihrer Nähe seien hohen Risiken ausgesetzt.
Zivile Lösungen sind durch militärische Planungen, wie sie der Bundestagsbeschluss enthielt, gefährdet. Die Strategie, politische Lösungen mit militärischen Mitteln herbeizuführen, hat im Afghanistan-Krieg erneut Schiffbruch erlitten.
Die Linkspartei hat in der Bundestagssitzung vom 25.8.2021 beantragt, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern möge, »alle Schritte in die Wege zu leiten, um die anderen Auslandseinsätze der Bundeswehr wie in Mali, am Horn von Afrika, im Kosovo oder im Mittelmeer unverzüglich zu beenden und dabei dort, wo dies für deren Sicherheit notwendig ist, eine zeitgleiche Evakuierung aller Ortskräfte auf den Weg zu bringen, um weitere humanitäre Katastrophen zu vermeiden«.
Diese Konsequenz aus dem Leid und Chaos in Afghanistan, wovor Kritiker schon seit 2001 gewarnt hatten, ist von den anderen Bundestagsparteien nicht unterstützt worden. Sie haben den LINKEN-Antrag in die Ausschüsse verwiesen, ein indirektes und doch deutliches Zeichen einer Ablehnung.
Ernüchternd ist auch die erneut sichtbar gewordene Realitätsverweigerung der Mehrheit der Parlamentarier, die sich in juristischen Fragen, und die sind bei Fragen von Frieden und Gewalt von hoher Relevanz, Sand in die Augen streuen ließen. Der von der Bundesregierung eingebrachte Beschluss täuscht in den Formulierungen eine Übereinstimmung mit dem Völkerrecht in mehrfacher Hinsicht vor, so mit diesem Zitat: »Der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte erfolgt auf Grundlage der fortgeltenden Zustimmung der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsangehöriger, von Personal der internationalen Gemeinschaft.«
Dazu ist anzumerken: Die Regierung, auf die die Bundesregierung sich hier beruft, ist zusammengebrochen, ihre Spitze ist im Exil; und die Bundesregierung hat bereits wiederholt mit der neuen Staatsführung Afghanistans verhandelt.
Eine weitere Täuschung, die Sprengstoff in sich birgt, findet sich in dieser Formulierung des Antrags der Bundesregierung: »Der Einsatz wird durchgeführt auf der Grundlage des Völkerrechts und der Zustimmung der Regierung der Islamischen Republik Afghanistan. Dies umfasst den Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung des Auftrags.«
Die Regierung und ihre Mehrheit im Bundestag hielt mit dem beschlossenen Text and der gescheiterten militärischen Option fest, so als wäre diese nicht längst vor die Wand gefahren.
Der moralische Druck, den die Propaganda aufbaut, wirkt auch auf alternative Kräfte; so erklärte beispielsweise Sebastian Weiermann in ND-der Tag, die Linksfraktion hätten dem Text zustimmen sollen. Er schrieb am Tag der Abstimmung im Bundestag: »Eine eng begrenzte Rettungsmission mitzuverantworten, hätte gezeigt, dass man außenpolitische Notwendigkeiten anerkennt. Das wäre auch angesichts des Strebens vieler Linker nach einem rot-rot-grünen Bündnis im Bund richtig gewesen.« Sebastian Weiermann übersieht die inzwischen unübersehbar dramatisch gewordenen Gefahrenpotentiale im Beschlusstext von Parlament und Regierung. Wie sollte denn eine militärische Rettung durch bewaffnete Kräfte von Menschen aus dem Einsatzgebiet der Bundeswehr hunderte Kilometer von Kabul entfernt aussehen, wenn sie in eine Zeit nach dem Fristende, das die neue Macht im Staat gesetzt hatte, gefallen wäre? Sollen dann Hubschrauber oder Panzer die Evakuierung gegen den Widerstand der neuen Herren im Land durchsetzen und hoffen, dass die zu Rettenden und die Kampftruppen sowie ihre Helikopter, Panzer und weiteres Gerät aus möglichen Konfrontationen unversehrt herauskommen?
Solche Risiken waren der Bundesregierung offensichtlich klar, liest man doch in ihrem Text: »Zur Durchführung von konkreten Operationen kann, zum Zweck der Verlegung von Personal in unterstützender Funktion in angrenzenden Räumen, die Personalobergrenze zeitlich befristet überschritten werden. Gleiches gilt in Notsituationen.« Mit diesem Satz hielt sich die Bundesregierung noch kurz vor dem Kund getanen Ende des Militäreinsatzes die Option offen, Gewalt anzuwenden, wenn es zu einer von ihr bereits befürchteten Eskalation kommen sollte; damit sollte für den einkalkulierten »Notfall« das brandgefährliche Unternehmen zeitlich und räumlich weit über Kabul ausgedehnt werden können. Die Nato-affinen Parteien spielten und spielen mit Ortskräften, Kampftruppen und der Bevölkerung auf Risiko; sie erweisen sich damit als komplett blind gegenüber den Erfordernissen einer Sicherheitspolitik, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Wenn sich Taliban-Vertreter in Verhandlungen mit der Bundesregierung zivilen Lösungen gegenüber offen zeigen, dann ist ein militärisches Abenteuer auch von daher unverantwortlich.
Auf das militärische Desaster folgen Warnungen des UNO-Generalsekretärs Guterres, der nun vor einem »völligen Zusammenbruch der Grundversorgung in dem Land« warnt. Der Krieg hat über zwei Billionen US-Dollar gekostet. Jetzt werden immense, aber deutlich weniger Mittel für die Menschen dringend gebraucht.
Aus dem wiederholten Scheitern einer militärisch angestrebten Konfliktbeendigung ergibt sich die zwingende Konsequenz, den Militärs weltweit den Nachschub an Feuerkraft abzudrehen und die Bedürfnisse von Mensch und Natur zu befriedigen. Passend beantragte die Linkspartei in der Bundestagssitzung am 25.8.2021: »Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den Export von Rüstungsgütern in Länder der Region des Vorderen und Mittleren Orients, insbesondere nach Pakistan, sofort einzustellen und keine neuen Genehmigungen mehr zu erteilen.«
Auch dieser Text wurde in die Ausschüsse verwiesen. Die Kräfte, die dahinterstehen, unterstützen damit indirekt und teils unverhohlen, dass die Bundesregierung in der laufenden Legislaturperiode Rüstungsexporte in Höhe von 22,5 Milliarden Euro genehmigt hat, wie das Wirtschaftsministerium laut dpa der Linksfraktion im August 2021 antwortete. Waffen im Wert von weit über 400 Millionen Euro gingen an Afghanistan. Die Fragen von Frieden, Krieg, Rüstung und Militarisierung müssen nun im Wahlkampf einen noch größeren Stellenwert erhalten.
Die Nato-Lobby wirft der Linkspartei Regierungsunfähigkeit vor, da sie sich ihrer Politik verschließt. Angesichts des erneuten Scheiterns des Westens ist das zynisch. Die Schlussphase des Bundestagswahlkampfes muss zur Abrechnung mit der krachend gescheiterten Nato-Kriegspolitik werden, und die Friedensbewegung muss den Militaristen Einhalt gebieten, die jetzt mehr europäische Unabhängigkeit von den USA und mehr Militärausgaben fordern.
Das ist überfällig, da die ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen der Militarisierung Leid, Zerstörung und massive Zukunftsgefährdungen mit sich bringen. Es gibt keine nachhaltige Perspektive für die Menschheit ohne die Ausrichtung der Politik auf friedliche Konfliktlösung und Abrüstung.