Nein, ein Widerstandskämpfer ist mein Vater nicht gewesen. Kein richtiger jedenfalls, der sein Leben für den Kampf gegen die Nazis riskiert hätte. Dazu war er zu vorsichtig, sein Leben und das seiner kleinen Familie, seiner Frau und seiner jungen Tochter, wollte er nicht gefährden. Und doch gibt es Handlungen, die ihn als klaren Gegner der Nazis und ihrer menschenverachtenden Ideologie zeigen. Und eine dieser Handlungen hat ihn dann doch in Lebensgefahr gebracht, in höchste sogar.
Mein Vater war Atheist. Kirche lehnte er ab. Was er davon halten würde, dass sein jüngster Enkel Pfarrer und Doktor der Theologie geworden ist, würde mich sehr interessieren. Würde es zwischen ihm und seinem Enkel ein Gespräch über Religion geben? Ich weiß es nicht. Meine Mutter dagegen wäre begeistert. Für sie und ihr traditionelles Denken war der Pfarrer das Größte.
Der älteste Bruder meines Vaters war ein Nazi, ein richtiger, der sogar als Abgeordneter für die NSDAP im Ahlener Stadtparlament saß, dort, wo meine Familie damals wohnte. Als dieser Nazi von meinem Vater verlangte, dass er aus der Kirche austritt, weil der Führer es so wollte, ist mein Vater dringeblieben. Grad deshalb, weil es der Nazi-Bruder anders wollte. Und natürlich auch wegen meiner Mutter, für die ein Austritt aus der Kirche unvorstellbar war. Der Atheist, der aus Trotz gegen die Nazis in der Kirche blieb, das ist auch eine Haltung.
Mein Vater hat nie die Nazis gewählt, nicht vor der Machergreifung 1933 und auch nicht danach. Die Nazis zu wählen, hieße Krieg zu wählen, davon war er überzeugt. Zur Zeit der Reichstagswahl im November 1933, als nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden konnte, arbeitete mein Vater im Sauerland am Bau des Sorpesees. In dem Wahllokal des Dorfes, in dem er wohnte, stimmte er mit Nein, genau wie andere Arbeitskollegen, die ihm das heimlich verraten hatten und denen er das glaubte. Genutzt hat es nichts. Als das Ergebnis verkündet wurde, hatten angeblich 100 Prozent mit Ja gestimmt.
Er war zur Zeit der Weimarer Republik viele Jahre lang arbeitslos gewesen, als gelernter Kaufmann hatte er keine Arbeit gefunden. Damals hatte er in Kamen gewohnt. Schließlich hatte der Nazi-Bruder ihn nach Ahlen gelockt und ihm Arbeit auf der Kokerei besorgt. Das war sein Glück gewesen, denn dadurch er war im Krieg »Uk« gestellt. Unabkömmlich hieß das. Kokskohle war wichtig für Stahl und Stahl wichtig für … Mein Vater musste nicht an die Front, wahrscheinlich hat das sein Leben gerettet.
Mein Vater gehörte in dieser Zeit zu einer kleinen sozialdemokratischen Widerstandszelle in Ahlen. Ein Mann namens Max Zölzer leitete sie. Als ich viele Jahre später, lange nach dem Tod meines Vaters, in Ahlen zur Familiengeschichte recherchierte und einen informierten Journalisten traf, konnte der sich an den Namen Zölzer erinnern. Doch, die kleine Widerstandsgruppe in der Nazizeit war noch in Ahlen bekannt.
Was haben sie gemacht? Hauptsächlich haben sie Feindsender gehört, weil sie wissen wollten, wie es an der Front stand. Und vor allem, wie lange die Naziherrschaft noch dauern würde. Feindsender zu hören, war gefährlich, wenn es rauskam, drohten drastische Strafen. Ich habe dieses Motiv in meinem kleinen Roman »Flucht in den Berg« verwendet, in dem ein Bergmann, der auch Heinrich heißt, ebenfalls Feindsender hört und sein Sohn das mitkriegt. Und weil der Junge ausplaudert, dass die Alliierten schon den Brückenschlag über den Rhein geschafft haben, kommen beide, Vater und Sohn, in lebensgefährliche Konflikte mit den Nazis.
Welche anderen Aktionen die Widerstandsgruppe um Max Zölzer durchgeführt hat, ob sie Nazigegnern in Not geholfen haben, ich weiß es nicht. Vermutlich war das so.
Am Ende des Krieges ist er dann richtig in Lebensgefahr geraten. Er wurde zum Volkssturm eingezogen und sollte mit anderen älteren Männern mit einer Knarre in der Hand in der Eifel die amerikanischen Panzer aufhalten. An einem der letzten Kriegstage ein Himmelfahrtskommando! Als sie sich in einem Feld eingruben, erzählte mein Vater später, sei aufgeregt der Bauer angelaufen gekommen und hätte gebrüllt, dass sie verschwinden sollten. Ob sie wollten, dass die amerikanischen Panzer, die schon hinter dem Hügel Aufstellung bezogen hatten, noch im letzten Moment seinen Bauernhof zerstörten. Der Bauer hatte sich damit selber in Lebensgefahr gebracht, denn wenn einer der Volkssturmleute Nazianhänger gewesen wäre, hätte er ihn erschießen können. Es war aber keiner von diesen Leuten mehr blindgläubiger Nazi, darauf verließ sich auch mein Vater, denn er antwortete dem Bauern, dass er selbst, wenn die amerikanischen Panzer kämen, schon lange nicht mehr da sei. Mein Vater ist desertiert.
Am Tage hat er irgendwo in einem Wald oder in einer Scheune geschlafen und sich des Nachts auf den Weg nach Hause gemacht. Wenn sie ihn erwischt hätten, wenn … Mit Deserteuren machten die Nazis kurzen Prozess. Dann hätte es ihn nicht mehr gegeben und mich später auch nicht.
Meine Mutter wusste, dass er sich absetzen würde und sperrte die Kellertür nicht ab. Und tatsächlich, spät abends klopfte es leise an der Wohnungstür. Meine Mutter wusste sofort, dass er es war. Sie hat ihm erst mal etwas zu essen gemacht, dann hat sie ihm im Keller hinter den Regalen ein Lager errichtet. Dort hat er geschlafen und wollte sich am nächsten Tag zu seiner Schwester Hedwig nach Kamen-Overberge durchschlagen. Wenn sie ihn suchen würden, so vermutete er, dann sicher zuerst in seiner Wohnung. Bei seiner Schwester, so glaubte er, würde ihn niemand vermuten. Aber da hat meine Mutter den richtigen Instinkt gehabt und seine weitere Flucht verhindert. Sie wollte, dass sie jetzt, in den letzten Kriegsstunden, zusammenblieben, sie drei, koste es, was es wolle.
Das war die richtige Entscheidung gewesen, denn das Haus seiner Schwester hat noch am letzten Kriegstag unter Beschuss gestanden. Mein Onkel starb an einem Bauchschuss, meiner Tante Hedwig wurde von einem Splitter eine Fingerkuppe abgeschnitten. Sie wurde von dem Nachbarn Stunden später, als der Krieg zu Ende war, in ein Krankenhaus nach Hamm gebracht. Als mein Vetter sie dort am folgenden Wochenende besuchen wollte, war auch sie tot. Die Wunde hatte sich entzündet, sie war an einer Blutvergiftung gestorben.
Mein Vater hatte inzwischen noch zweimal Glück gehabt. Er hatte, bevor er in den Keller ging, seine Militärkappe auf dem Sofa vergessen. Dort hat sie seine Tochter am Morgen sofort entdeckt. »Papa ist da!«, hat sie gerufen. Meine Mutter hatte ihr eingeschärft, nur ja niemandem zu sagen, dass ihr Papa zu Hause sei, aber als sie beim Spielen von einem Jungen bedrängt wurde, hat sie laut »Papa« gerufen. Meine Mutter war zu Tode erschrocken gewesen, aber die Nachbarin hat sie beruhigt. »Wir wissen längst, dass Heinrich zu Hause ist«, hat sie gesagt und ihr versprochen, dass niemand etwas verraten würde. Die Solidarität unter den Arbeiterfrauen war groß gewesen.
Die Engländer rückten an, der Leiter des Krankenhauses, ein Dr. Rosenbauer, fuhr ihnen entgegen und übergab die Stadt Ahlen kampflos. Für meinen Vater war das immer noch nicht die endgültige Rettung, denn kurz drauf hingen an den Wänden Plakate mit dem Hinweis, dass sofort gemeldet werden müsse, wo sich noch Soldaten aufhielten. Meine Mutter vertraute dem Chefarzt, fuhr mit dem Fahrrad zum Krankenhaus und schaffte es tatsächlich, vorgelassen zu werden. Dem Chefarzt erzählte sie, dass mein Vater desertiert sei und sich nun im Keller aufhalte. Der Arzt hatte Verständnis, hat meiner Mutter gesagt, dass mein Vater sofort ins Krankenhaus kommen müsse, am Abend würde durchgezählt. Wer bis dahin da sei, würde als Kranker eingestuft, dem könne nichts mehr passieren. Zur Sicherheit gab er meiner Mutter noch eine Bescheinigung mit, die bestätigte, dass mein Vater unbedingt ins Krankenhaus kommen müsse. So kam mein Vater als gesunder Kranker zu Dr. Rosenbauer, hat dort zur Tarnung zwei Tage verbracht und wurde mit ordentlichen Entlassungspapieren nach Hause geschickt. So ist ihm sogar die Kriegsgefangenschaft bei den Engländern erspart geblieben.
Kurz drauf ist mein Vater in die wiedergegründete Ahlener SPD eingetreten, in jene Partei, für die er schon illegal gearbeitet hatte, doch als seine Mutter ihm kurz darauf das Peuckmann-Haus in Kamen übertrug und er umzog, hat er sich nicht bei der SPD umgemeldet. Meine Mutter hat das verhindert, wir hatten nie viel Geld. Den Mitgliedsbeitrag für die Partei wollte sie einsparen.
So ist meinem Vater die Mitgliedschaft in einem Ortsverein erspart geblieben, der später mich, meiner kritischen Literatur wegen, beschimpft und verunglimpft hat. Ausgerechnet die Partei, für die er illegal in der Nazizeit gearbeitet hat, tat alles, um seinem Sohn zu schaden.
Als ich später, Jahre nach seinem Tod, an seinem Geburtstag, den 23. Februar, in der Gärtnerei gegenüber dem Friedhof Blumen für ihn kaufen wollte und überlegte, welche ich nehmen sollte, schlug die Verkäuferin, die ihn gekannt hatte, vor, ich sollte rote Tulpen nehmen.
»Rot, das passt zu ihm und seiner Gesinnung«, sagte sie. Ja, das leuchtete mir ein. Sieben rote Tulpen standen kurz darauf auf seinem Grab.