Nach den Monaten der konfrontationsfreudigen Berichte ist mittlerweile eine Art Ernüchterung zu beobachten: Ob die fehlende Energie aus Russland wohl eine Inflation bewirkt? Reichen die verbliebenen Energieerzeugungskapazitäten aus? Kann ein besserer Duschkopf das Ansteigen der Energierechnung verhindern? Momentan ist diese Sichtweise dominierend, ebenso das Registrieren der bisherigen Preiserhöhungen in Richtung Inflation. Letztendlich ist dies nicht mehr als eine Dokumentation; nur wenige mediale Platzhirsche machen sich die Mühe, »nach vorn« in die nahe Zukunft zu schauen: Was könnte denn noch passieren?
Doch, es gibt Prognose-Szenarien, zum Beispiel den ministeriell angewiesenen 2. Stress-Test für die Energieversorgung. Das medial breit propagierte Ergebnis: Wenn zwei Atomkraftwerke auf Reserve gehen, sind Energie-Absenkungen beherrschbar! Ich kenne Reserve-Rechnungen, habe sie in meinem Berufsleben häufig angewandt. Hier ist schon entscheidend, wie schnell die fehlende Energie nachgeliefert werden kann: Ist ein Atomkraftwerk z. B. im Stillstand, kann es nicht ab morgen Strom liefern – das Anfahren aller Systeme (beginnend bei den Sicherheitskreisen bis hin zum Einfahren der Brennstäbe) dauert weit über eine Woche. Wenn also eine Situation eintreten würde, bei der eine Strom-Lücke in den nächsten Stunden zu überbrücken ist, wäre die zu erwartende Antwort aus einem AKW im Ruhezustand: »Wir müssen erstmal alles hochfahren – sorry – fragt in 10 Tagen nochmal nach.« Für kurzfristige Strom-Zuspeisungen sind Gas-Kraftwerke (aufgrund schnellerer Leistungserhöhungen) wesentlich besser geeignet als Kohle- und Kernkraftwerke – aber Erdgas will die Politik ja nicht mehr. Deshalb sind gewisse Zweifel erlaubt, ob der medial vorhandene Optimismus nur politikgetrieben ist und zur Beschwichtigung dient. Möglicherweise fehlen vielen Kommentatoren und Leitartiklern die Kenntnisse für derartige Prozesse und Abläufe; in der journalistischen Ausbildung sind sie wohl kaum enthalten; vielleicht sind sie in den Wirtschafts-Redaktionen erkennbar. Denkt man eher in industriellen Prozessen, ergeben sich noch weiterführende Frage:
Tausende produzierende Firmen benötigen hohe Temperaturen, und einen Großteil davon erzeugen sie mit Gasbrennern, z. B. in Reaktoren, Schmelzöfen, Heiztunneln. Entfällt die Gaszufuhr, kann – aus praktischer Sicht – meist nur mit Strom temperiert werden (denn Erdöl gibt es ja auch keins). Ob alle diese Firmen genug Strom aus dem Netz ziehen dürfen (derartige Umstellungen müssen genehmigt werden, das dauert meist mehrere Wochen), ob die Umrüstung erfolgen kann (hohe Kosten und großer Zeitaufwand – oft muss ein riesiges System demontiert, umgebaut und montiert werden), ob dann die Produkt-Qualität noch stimmt (die Stoffumwandlung verläuft möglicherweise anders) – diese Fragen sind für jede betroffene Firma existenziell.
Die letzte Fragestellung (zur Produkt-Qualität) führt zu einem weiteren Aspekt: Eine Firma produziert ja nicht für den Eigenbedarf, sondern für ihre Kunden, die wiederum für nachfolgende Kunden – die Arbeitsteilung ist heutzutage durch eine riesige Vernetzung geprägt. Damit würde der Ausfall eines »Gliedes« in einer Produktionskette alle nachfolgenden Produktionsschritte blockieren. Gut, das passiert heute auch – wenn ein Lieferant seine Systeme zwecks Wartung abschaltet oder wenn die Qualität eines Produkts nicht stimmt. Dann würde die fehlende Kapazität durch andere Firmen abgefangen – so funktioniert der Markt. Wenn jedoch alle Firmen, die dieses Produkt herstellen, aufgrund von Energiemangel ausfallen und die vor- und nachgelagerten Produzenten auch: Was ergibt sich dann? Ein Totalausfall eines Industriezweigs? Oder bricht noch mehr weg? Sind dann etliche Regale in den Supermärkten leer, überall? Entstehen systemrelevante Engpässe, ggf. auch für kritische Infrastrukturen wie die Wasserversorgung oder die Gesundheitsfürsorge?
Es wird deutlich, dass eine derart umfassende Sanktionspolitik auch die oft so hochgepriesenen »Gesetze des Marktes« außer Kraft setzt – und keine Finanzspritzen oder Stützungsaktionen können dies ausgleichen. Wenn die BRD in der Vergangenheit der Export-Weltmeister war – wer will dann dafür grade stehen, dass durch derartige Entscheidungen (die vorrangig auf politischen Denkhaltungen beruhen) das Abgleiten in eine ausgebremste Industrie zu verantworten ist? Denn der starke Export hing auch davon ab, dass die Firmen günstige Energie aus Russland bekamen. Irgendwie kommt mir ein altes Sprichwort in den Sinn:
»Säge nicht den Ast ab, auf dem du sitzt.«