Deutsche Medien würdigen ausgiebig das lange Wirken der Bundeskanzlerin. Will man Angela Merkel gerecht werden, sollte ihr Anliegen, eine marktkonforme Demokratie zu schaffen, genauso wenig übergangen werden wie ihre Strategie der Durchsetzung politischer Interessen: »Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der Nato-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt – fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt.« Diese ehrliche Bilanz zog sie nicht für die Öffentlichkeit, sondern anlässlich einer Feier des »Institut für Demoskopie Allensbach – Gesellschaft zum Studium der öffentlichen Meinung mbH« im Jahr 2010. Und sie ergänzte: »Erst im Nachhinein hat sich in vielen Fällen die Haltung der Deutschen verändert.«
Wer hat für diese Änderung gesorgt? Für die Verwirklichung einer solchen marktkonformen Pseudodemokratie braucht es Verbündete. Und das sind gewiss nicht Attac, Lobbycontrol, die Informationsstelle Militarisierung oder die Internetplattform FragDenStaat. Wie ein altes Familienfoto bleibt im kollektiven Gedächtnis vielmehr die Geburtstagsfeier des berüchtigten Josef Ackermann haften, seinerzeit Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank. Ins Bundeskanzleramt eingeladen hatte die Kanzlerin – laut US-Wirtschaftsmagazin Forbes die mächtigste Frau der Welt. Frau Merkel hatte dazu die wichtigsten RepräsentantInnen der Machtelite aus Konzernen und Banken gebeten – und der Medien: Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Axel-Springer-Imperiums und Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, Frank Schirrmacher als Mitherausgeber der FAZ, die Milliardärin Friede Springer für die Springer und Bertelsmann SE und den Showmaster Frank Elstner.
Das gemeinsame Interesse an Macht ist der Kitt der Eliten-Kameradschaft, um die eigenen Privilegien aufrecht erhalten zu können. Und es bedarf der Soft Power der Konzernmedien, die Ungleichheit zu legitimieren und in den Köpfen zu verankern. Kritische Analysen zeigen zahlreiche Methoden der Meinungsbeeinflussung, zu denen sogar die »Faktenchecks« gehören können. Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer sprach darüber mit dem »Faktenchecker« eines deutschen Magazins; das Interview wurde nicht veröffentlicht, kann aber unter dem Titel »Wie kann man mit Faktenchecks lügen?« bei Krass & Konkret (11.8.21) nachgelesen werden: »Mit jeder Darstellung kann man lügen, indem wichtige Fakten fehlen. Das passiert ständig, ist kaum zu vermeiden und selten böse Absicht, aber es gibt natürlich auch gezieltes Weglassen. Der Effekt ist nicht unerheblich, wenn beispielsweise die russischen Kriegsmanöver ohne Hinweis auf das Nato-Manöver Defender 2021 berichtet werden.«
Jedes Medium muss eine Auswahl an berichtenswerten Ereignissen treffen; zum Demokratieproblem wird die Selektion erst, wenn unliebsame Fakten und Nachrichten systematisch herausgefiltert werden. Ein Beispiel: Der ehemalige Geheimdienstanalyst der National Security Agency Daniel Hale wurde kürzlich in den USA zu 45 Monaten Knast verurteilt, weil er als Whistleblower die »Drone Papers« veröffentlicht hatte. Aus dem Drohnenleak ging hervor, dass dem Afghanistankrieg vor allem Zivilisten zum Opfer fielen. Die »Wertegemeinschaft« des Westens hat offensichtlich kein Interesse daran, dies an die große Glocke zu hängen – und bis auf das Redaktionsnetzwerk Deutschland meldet kein Konzernmedium solche Fakten, die der Regierungspolitik schaden könnten. Da ist die kritische Leserschaft auf Medien wie NachDenkSeiten, Neues Deutschland, junge Welt, Ossietzky, heise.de oder democracynow.org. angewiesen.
Auch der Fall des ukrainischen Video-Bloggers Anatoli Schari wird totgeschwiegen. In einem längeren Beitrag berichtet Ulrich Heyden auf den NachDenkSeiten (12.8.21) über den investigativen Blogger, gegen den der ukrainische Geheimdienst SBU ein Strafverfahren wegen Landesverrates einleiten ließ. Eine rechtsradikale ukrainische Organisation forderte öffentlich und ungestraft seinen Tod. Litauen hat ihm den Status eines politischen Flüchtlings entzogen, den er seit Jahren innehatte; jetzt befürchtet er, dass er aus Spanien, wo er derzeit lebt, an die Ukraine ausgeliefert wird. Sein »Verbrechen«: Täglich bringt er auf seinem Video-Kanal kritische Beiträge über Poroschenko, Selenski und die ukrainische Regierung.
Überhaupt erfährt man hierzulande wenig über die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in der Ukraine, obwohl das dortige Militär vom Westen aufgerüstet und zu Nato-Manövern eingeladen wird. Die fatale Menschenrechtssituation wird gar nicht thematisiert, weil das Land als Verbündeter gegen Russland aufgebaut wird. Erst eine Staatsbeschwerde Russlands beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat ins Bewusstsein gerufen, dass in der ehemaligen Unionsrepublik der Sowjetunion schwere Verletzungen der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, wie sie in der Europäischen Konvention zu ihrem Schutz festgelegt sind, stattfinden. Die Liste der Vorwürfe ist lang und konkret: Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Verfolgung von Dissidenten, Verbot der Arbeit von Medien und Journalisten, Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung, Wasserblockade der Krim, unrechtmäßige Verhaftungen und einiges mehr. Unmöglich, all die Punkte als russische Propaganda abzutun, denn einzelne Vorfälle sind seit langem bekannt und erwiesen. Wäre es nicht Aufgabe einer freien Presse, die mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch eigene Recherchen zu klären?
Russland und China sind von den Regierungen der USA und der EU zum Feind erklärt worden. Die freie Presse dieser Länder unterlässt es weitgehend, dazu objektive, differenzierte Analysen zu liefern. Auch in diesem Fall: Russland hat der Bundesregierung vorgeworfen, die Vergiftung des »Kremlkritikers« Alexej Nawalny inszeniert zu haben. »Sie habe bereits eine Untersuchungsgruppe der Internationalen Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) angefordert, als über die Intoxikation Nawalnys noch nichts bekannt gewesen sei«, schrieb die junge Welt (14.7.21), die seit Jahren in den Berichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz als verfassungsfeindlich geführt wird – ohne dass die bürgerlichen Medien Einspruch erheben würden. Die großen Medien befassten sich gar nicht mit den russischen Vorwürfen: Sind sie widerlegt? Was sagt die Bundesregierung dazu? Das kritische Publikum wartet vergeblich auf Ergebnisse.
Die Liste der unterdrückten Nachrichten ist lang, täglich kommen neue dazu. Ob Wirtschafts-, Militär- oder Sozialpolitik: Ohne kritische, meist kleine Medien und Onlineportale bekommt die Bevölkerung ein einseitiges, vorgeprägtes Bild von der Welt. Und häufig werden die Fakten in einen inhaltlichen Zusammenhang gestellt, der eine parteiliche Deutung nahelegt, so etwa beim neuen Feind China. So berichten die BNN unter dem Titel »Die Politik schlägt quer« am 2.8.21 über »massive und wahllose Eingriffe des Staates (…). Viele Investoren fragen sich nun: Was hat Peking noch vor? (…) Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Tauziehen zwischen marktwirtschaftlichen Kräften und der kommunistischen Führung weitergehen wird.«
Was war geschehen? Die chinesische Regierung kritisiert den milliardenschweren Markt an Videospielen und will Kinder gegen Spielsucht und Gewaltinhalte schützen. Auch die riesige kommerzielle Nachhilfe-Branche – ein Markt von 120 Milliarden Dollar – soll nicht mehr gewinnorientiert, sondern nur noch gemeinnützig arbeiten dürfen. Große Internetkonzerne werden strikt reguliert: Die Finanzbranche bekommt neue Regeln, der Internetriese Alibaba wird wegen Kartellvergehen bestraft, der Online-Fahrdienstvermittler Didi ebenfalls, weil er exzessiv Daten erhoben hat. Statt aber diese Maßnahmen für das Gemeinwohl zur Diskussion zu stellen – könnten sie nicht als Vorbild für die Politik bei uns dienen, wo etwa die milliardenschweren Wohnungskonzerne zu Lasten der Mieter mit höchstrichterlichem Segen noch mehr Profit machen dürfen –, wird »Regulierung« stets aus der Sicht von Investoren und Aktionären betrachtet und verurteilt.
Öffentliche Diskussion? Fehlanzeige! Dabei haben wir doch eine freie Presse, ganz anders als in Polen oder Ungarn! Leider sucht man mit mäßigem Erfolg nach Auseinandersetzungen über Ursachen und Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, über Aufrüstung und Auslandseinsätze der Bundeswehr, über Privatisierung der Daseinsvorsorge und die allgegenwärtige Überwachung. Nicht einmal auf den Überwachungsskandal Pegasus oder die dänische Beteiligung beim Abhören europäischer Spitzenpolitiker durch den US-Geheimdienst NSA folgen Diskussionen und Konsequenzen. Die Empörung über Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen wird in andere Richtung kanalisiert, ja, geradezu umgelenkt.
Ein Beispiel dafür ist die konstruierte Anklage gegen den Journalisten Assange, dessen berufliche und persönliche Existenz seit über zehn Jahren seitens staatlicher Institutionen von Schweden, England, Ecuador und den USA entgegen Menschen- und Völkerrecht systematisch zerstört werden soll. Der Grund: Er hat Kriegsverbrechen der westlichen Vormacht aufgedeckt. Hätte nicht der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer sehr deutlich öffentlich die undemokratischen, kriminellen Machenschaften der Staaten aufgedeckt und deutlich angeprangert (zuletzt in Der Freitag 5.8.21), wäre die Öffentlichkeit weiter belogen worden. Das Schweigen der maßgeblichen PolitikerInnen und der meinungsbildenden Medien in Deutschland ist eine Schande; es ist Teil der Entdemokratisierung.