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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Marktfonforme Pressefreiheit

Deut­sche Medi­en wür­di­gen aus­gie­big das lan­ge Wir­ken der Bun­des­kanz­le­rin. Will man Ange­la Mer­kel gerecht wer­den, soll­te ihr Anlie­gen, eine markt­kon­for­me Demo­kra­tie zu schaf­fen, genau­so wenig über­gan­gen wer­den wie ihre Stra­te­gie der Durch­set­zung poli­ti­scher Inter­es­sen: »Die Ein­füh­rung der Sozia­len Markt­wirt­schaft, die Wie­der­be­waff­nung, die Ost­ver­trä­ge, der Nato-Dop­pel­be­schluss, das Fest­hal­ten an der Ein­heit, die Ein­füh­rung des Euro und auch die zuneh­men­de Über­nah­me von Ver­ant­wor­tung durch die Bun­des­wehr in der Welt – fast alle die­se Ent­schei­dun­gen sind gegen die Mehr­heit der Deut­schen erfolgt.« Die­se ehr­li­che Bilanz zog sie nicht für die Öffent­lich­keit, son­dern anläss­lich einer Fei­er des »Insti­tut für Demo­sko­pie Allens­bach – Gesell­schaft zum Stu­di­um der öffent­li­chen Mei­nung mbH« im Jahr 2010. Und sie ergänz­te: »Erst im Nach­hin­ein hat sich in vie­len Fäl­len die Hal­tung der Deut­schen verändert.«

Wer hat für die­se Ände­rung gesorgt? Für die Ver­wirk­li­chung einer sol­chen markt­kon­for­men Pseu­do­de­mo­kra­tie braucht es Ver­bün­de­te. Und das sind gewiss nicht Attac, Lob­by­con­trol, die Infor­ma­ti­ons­stel­le Mili­ta­ri­sie­rung oder die Inter­net­platt­form Frag­Den­Staat. Wie ein altes Fami­li­en­fo­to bleibt im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis viel­mehr die Geburts­tags­fei­er des berüch­tig­ten Josef Acker­mann haf­ten, sei­ner­zeit Vor­stands­vor­sit­zen­der der Deut­schen Bank. Ins Bun­des­kanz­ler­amt ein­ge­la­den hat­te die Kanz­le­rin – laut US-Wirt­schafts­ma­ga­zin For­bes die mäch­tig­ste Frau der Welt. Frau Mer­kel hat­te dazu die wich­tig­sten Reprä­sen­tan­tIn­nen der Macht­eli­te aus Kon­zer­nen und Ban­ken gebe­ten – und der Medi­en: Mathi­as Döpf­ner, Vor­stands­vor­sit­zen­der des Axel-Sprin­ger-Impe­ri­ums und Prä­si­dent des Bun­des­ver­ban­des Deut­scher Zei­tungs­ver­le­ger, Frank Schirr­ma­cher als Mit­her­aus­ge­ber der FAZ, die Mil­li­ar­dä­rin Frie­de Sprin­ger für die Sprin­ger und Ber­tels­mann SE und den Show­ma­ster Frank Elstner.

Das gemein­sa­me Inter­es­se an Macht ist der Kitt der Eli­ten-Kame­rad­schaft, um die eige­nen Pri­vi­le­gi­en auf­recht erhal­ten zu kön­nen. Und es bedarf der Soft Power der Kon­zern­me­di­en, die Ungleich­heit zu legi­ti­mie­ren und in den Köp­fen zu ver­an­kern. Kri­ti­sche Ana­ly­sen zei­gen zahl­rei­che Metho­den der Mei­nungs­be­ein­flus­sung, zu denen sogar die »Fak­ten­checks« gehö­ren kön­nen. Die Medi­en­wis­sen­schaft­le­rin Sabi­ne Schif­fer sprach dar­über mit dem »Fak­ten­checker« eines deut­schen Maga­zins; das Inter­view wur­de nicht ver­öf­fent­licht, kann aber unter dem Titel »Wie kann man mit Fak­ten­checks lügen?« bei Krass & Kon­kret (11.8.21) nach­ge­le­sen wer­den: »Mit jeder Dar­stel­lung kann man lügen, indem wich­ti­ge Fak­ten feh­len. Das pas­siert stän­dig, ist kaum zu ver­mei­den und sel­ten böse Absicht, aber es gibt natür­lich auch geziel­tes Weg­las­sen. Der Effekt ist nicht uner­heb­lich, wenn bei­spiels­wei­se die rus­si­schen Kriegs­ma­nö­ver ohne Hin­weis auf das Nato-Manö­ver Defen­der 2021 berich­tet werden.«

Jedes Medi­um muss eine Aus­wahl an berich­tens­wer­ten Ereig­nis­sen tref­fen; zum Demo­kra­tie­pro­blem wird die Selek­ti­on erst, wenn unlieb­sa­me Fak­ten und Nach­rich­ten syste­ma­tisch her­aus­ge­fil­tert wer­den. Ein Bei­spiel: Der ehe­ma­li­ge Geheim­dienst­ana­lyst der Natio­nal Secu­ri­ty Agen­cy Dani­el Hale wur­de kürz­lich in den USA zu 45 Mona­ten Knast ver­ur­teilt, weil er als Whist­le­b­lower die »Dro­ne Papers« ver­öf­fent­licht hat­te. Aus dem Droh­nen­leak ging her­vor, dass dem Afgha­ni­stan­krieg vor allem Zivi­li­sten zum Opfer fie­len. Die »Wer­te­ge­mein­schaft« des Westens hat offen­sicht­lich kein Inter­es­se dar­an, dies an die gro­ße Glocke zu hän­gen – und bis auf das Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land mel­det kein Kon­zern­me­di­um sol­che Fak­ten, die der Regie­rungs­po­li­tik scha­den könn­ten. Da ist die kri­ti­sche Leser­schaft auf Medi­en wie Nach­Denk­Sei­ten, Neu­es Deutsch­land, jun­ge Welt, Ossietzky, heise.de oder democracynow.org. angewiesen.

Auch der Fall des ukrai­ni­schen Video-Blog­gers Ana­to­li Scha­ri wird tot­ge­schwie­gen. In einem län­ge­ren Bei­trag berich­tet Ulrich Heyden auf den Nach­Denk­Sei­ten (12.8.21) über den inve­sti­ga­ti­ven Blog­ger, gegen den der ukrai­ni­sche Geheim­dienst SBU ein Straf­ver­fah­ren wegen Lan­des­ver­ra­tes ein­lei­ten ließ. Eine rechts­ra­di­ka­le ukrai­ni­sche Orga­ni­sa­ti­on for­der­te öffent­lich und unge­straft sei­nen Tod. Litau­en hat ihm den Sta­tus eines poli­ti­schen Flücht­lings ent­zo­gen, den er seit Jah­ren inne­hat­te; jetzt befürch­tet er, dass er aus Spa­ni­en, wo er der­zeit lebt, an die Ukrai­ne aus­ge­lie­fert wird. Sein »Ver­bre­chen«: Täg­lich bringt er auf sei­nem Video-Kanal kri­ti­sche Bei­trä­ge über Poro­schen­ko, Selen­ski und die ukrai­ni­sche Regierung.

Über­haupt erfährt man hier­zu­lan­de wenig über die poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che und sozia­le Lage in der Ukrai­ne, obwohl das dor­ti­ge Mili­tär vom Westen auf­ge­rü­stet und zu Nato-Manö­vern ein­ge­la­den wird. Die fata­le Men­schen­rechts­si­tua­ti­on wird gar nicht the­ma­ti­siert, weil das Land als Ver­bün­de­ter gegen Russ­land auf­ge­baut wird. Erst eine Staats­be­schwer­de Russ­lands beim Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rech­te (EGMR) hat ins Bewusst­sein geru­fen, dass in der ehe­ma­li­gen Uni­ons­re­pu­blik der Sowjet­uni­on schwe­re Ver­let­zun­gen der Men­schen­rech­te und der Grund­frei­hei­ten, wie sie in der Euro­päi­schen Kon­ven­ti­on zu ihrem Schutz fest­ge­legt sind, statt­fin­den. Die Liste der Vor­wür­fe ist lang und kon­kret: Unter­drückung der Mei­nungs­frei­heit, Ver­fol­gung von Dis­si­den­ten, Ver­bot der Arbeit von Medi­en und Jour­na­li­sten, Dis­kri­mi­nie­rung der rus­sisch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung, Was­ser­blocka­de der Krim, unrecht­mä­ßi­ge Ver­haf­tun­gen und eini­ges mehr. Unmög­lich, all die Punk­te als rus­si­sche Pro­pa­gan­da abzu­tun, denn ein­zel­ne Vor­fäl­le sind seit lan­gem bekannt und erwie­sen. Wäre es nicht Auf­ga­be einer frei­en Pres­se, die mut­maß­li­chen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch eige­ne Recher­chen zu klären?

Russ­land und Chi­na sind von den Regie­run­gen der USA und der EU zum Feind erklärt wor­den. Die freie Pres­se die­ser Län­der unter­lässt es weit­ge­hend, dazu objek­ti­ve, dif­fe­ren­zier­te Ana­ly­sen zu lie­fern. Auch in die­sem Fall: Russ­land hat der Bun­des­re­gie­rung vor­ge­wor­fen, die Ver­gif­tung des »Kreml­kri­ti­kers« Ale­xej Nawal­ny insze­niert zu haben. »Sie habe bereits eine Unter­su­chungs­grup­pe der Inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­ti­on für das Ver­bot von Che­mie­waf­fen (OPCW) ange­for­dert, als über die Into­xi­ka­ti­on Nawal­nys noch nichts bekannt gewe­sen sei«, schrieb die jun­ge Welt (14.7.21), die seit Jah­ren in den Berich­ten des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz als ver­fas­sungs­feind­lich geführt wird – ohne dass die bür­ger­li­chen Medi­en Ein­spruch erhe­ben wür­den. Die gro­ßen Medi­en befass­ten sich gar nicht mit den rus­si­schen Vor­wür­fen: Sind sie wider­legt? Was sagt die Bun­des­re­gie­rung dazu? Das kri­ti­sche Publi­kum war­tet ver­geb­lich auf Ergebnisse.

Die Liste der unter­drück­ten Nach­rich­ten ist lang, täg­lich kom­men neue dazu. Ob Wirt­schafts-, Mili­tär- oder Sozi­al­po­li­tik: Ohne kri­ti­sche, meist klei­ne Medi­en und Online­por­ta­le bekommt die Bevöl­ke­rung ein ein­sei­ti­ges, vor­ge­präg­tes Bild von der Welt. Und häu­fig wer­den die Fak­ten in einen inhalt­li­chen Zusam­men­hang gestellt, der eine par­tei­li­che Deu­tung nahe­legt, so etwa beim neu­en Feind Chi­na. So berich­ten die BNN unter dem Titel »Die Poli­tik schlägt quer« am 2.8.21 über »mas­si­ve und wahl­lo­se Ein­grif­fe des Staa­tes (…). Vie­le Inve­sto­ren fra­gen sich nun: Was hat Peking noch vor? (…) Es ist sehr wahr­schein­lich, dass das Tau­zie­hen zwi­schen markt­wirt­schaft­li­chen Kräf­ten und der kom­mu­ni­sti­schen Füh­rung wei­ter­ge­hen wird.«

Was war gesche­hen? Die chi­ne­si­sche Regie­rung kri­ti­siert den mil­li­ar­den­schwe­ren Markt an Video­spie­len und will Kin­der gegen Spiel­sucht und Gewalt­in­hal­te schüt­zen. Auch die rie­si­ge kom­mer­zi­el­le Nach­hil­fe-Bran­che – ein Markt von 120 Mil­li­ar­den Dol­lar – soll nicht mehr gewinn­ori­en­tiert, son­dern nur noch gemein­nüt­zig arbei­ten dür­fen. Gro­ße Inter­net­kon­zer­ne wer­den strikt regu­liert: Die Finanz­bran­che bekommt neue Regeln, der Inter­net­rie­se Ali­baba wird wegen Kar­tell­ver­ge­hen bestraft, der Online-Fahr­dienst­ver­mitt­ler Didi eben­falls, weil er exzes­siv Daten erho­ben hat. Statt aber die­se Maß­nah­men für das Gemein­wohl zur Dis­kus­si­on zu stel­len – könn­ten sie nicht als Vor­bild für die Poli­tik bei uns die­nen, wo etwa die mil­li­ar­den­schwe­ren Woh­nungs­kon­zer­ne zu Lasten der Mie­ter mit höchst­rich­ter­li­chem Segen noch mehr Pro­fit machen dür­fen –, wird »Regu­lie­rung« stets aus der Sicht von Inve­sto­ren und Aktio­nä­ren betrach­tet und verurteilt.

Öffent­li­che Dis­kus­si­on? Fehl­an­zei­ge! Dabei haben wir doch eine freie Pres­se, ganz anders als in Polen oder Ungarn! Lei­der sucht man mit mäßi­gem Erfolg nach Aus­ein­an­der­set­zun­gen über Ursa­chen und Bekämp­fung von Armut und Ungleich­heit, über Auf­rü­stung und Aus­lands­ein­sät­ze der Bun­des­wehr, über Pri­va­ti­sie­rung der Daseins­vor­sor­ge und die all­ge­gen­wär­ti­ge Über­wa­chung. Nicht ein­mal auf den Über­wa­chungs­skan­dal Pega­sus oder die däni­sche Betei­li­gung beim Abhö­ren euro­päi­scher Spit­zen­po­li­ti­ker durch den US-Geheim­dienst NSA fol­gen Dis­kus­sio­nen und Kon­se­quen­zen. Die Empö­rung über Unge­rech­tig­keit und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wird in ande­re Rich­tung kana­li­siert, ja, gera­de­zu umgelenkt.

Ein Bei­spiel dafür ist die kon­stru­ier­te Ankla­ge gegen den Jour­na­li­sten Assan­ge, des­sen beruf­li­che und per­sön­li­che Exi­stenz seit über zehn Jah­ren sei­tens staat­li­cher Insti­tu­tio­nen von Schwe­den, Eng­land, Ecua­dor und den USA ent­ge­gen Men­schen- und Völ­ker­recht syste­ma­tisch zer­stört wer­den soll. Der Grund: Er hat Kriegs­ver­bre­chen der west­li­chen Vor­macht auf­ge­deckt. Hät­te nicht der UN-Son­der­be­richt­erstat­ter Nils Mel­zer sehr deut­lich öffent­lich die unde­mo­kra­ti­schen, kri­mi­nel­len Machen­schaf­ten der Staa­ten auf­ge­deckt und deut­lich ange­pran­gert (zuletzt in Der Frei­tag 5.8.21), wäre die Öffent­lich­keit wei­ter belo­gen wor­den. Das Schwei­gen der maß­geb­li­chen Poli­ti­ke­rIn­nen und der mei­nungs­bil­den­den Medi­en in Deutsch­land ist eine Schan­de; es ist Teil der Entdemokratisierung.