Giordano Bruno musste 1600 auf dem Campo de‘ Fiori in Rom sein Leben für die wissenschaftliche Erkenntnis von der Unendlichkeit und Ewigkeit des Universums hergeben. Die katholische Kirche brauchte 400 Jahre, um zu erkennen, dass dessen Hinrichtung Unrecht war. Von Galileo Galilei verlangte dieses Machtorgan, entgegen dessen astronomischen Beobachtungen nicht die Tatsache zu verbreiten, dass die Sonne gegenüber der Erde eine Mittelpunktstellung einnehme. Sein Leben rettete er, indem er sich dem Unwissen beugte. Die römische Kurie brauchte 360 Jahre, um zu erkennen, dass sich Macht gegen Wissenschaft auf Dauer nicht durchsetzen lässt. Dennoch: Allein das Verfahren gegen Galilei hatte die Wirkung, dass andere Gelehrte eingeschüchtert wurden und aus Angst am liebsten ihre Schriften verbrennen wollten. Oftmals genügte es, mit Machtmitteln zu drohen, um Wissenschaft zum Schweigen zu bringen.
Man sollte glauben, dass heutzutage ein solcher Umgang mit Wissenschaft, insbesondere im vermeintlich aufgeklärten Deutschland, der Vergangenheit angehört, zumal Artikel 5 des Grundgesetzes die Freiheit der Wissenschaft postuliert. Wenn sich eine deutsche Tageszeitung freimütig dazu bekennt, auf dem Boden einer bestimmten wissenschaftlichen Theorie und Methode zu stehen, schrillen jedoch die Alarmglocken des Staates. Sein Geheimdienst findet gar heraus, dass diese Wissenschaft respektive Zeitung verfassungsfeindlich ist. Dass zur Freiheit der Wissenschaft die Wahrheitssuche und die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Erkenntnisprozesses konstitutiv sind, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 90, 1/12) entschieden hat, ist beim Verfassungsschutz noch nicht angekommen. Staatliche Vorgaben, auch in Gestalt der Erwähnung in jährlichen Berichten des Verfassungsschutzes, welche wissenschaftlichen Methoden und Theorien anzuwenden sind und welche Resultate sie zu erbringen haben, verstoßen eindeutig gegen die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit der Wissenschaft. In der Antwort der Bundesregierung vom 5.5.2021 (Geburtstag des Wissenschaftlers Marx) auf eine kleine Anfrage der Fraktion der Linken, weshalb die Tageszeitung junge Welt im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019 im Kapitel »Linksextremismus« sowie im Registeranhang von Gruppierungen mit verfassungsfeindlichen Zielen auftaucht, ist unter anderem zu lesen:
»Revolutionäre marxistische Grundüberzeugungen basieren auf verschiedenen Aspekten, die sich gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde.«
Wer also zu der wissenschaftlichen Erkenntnis gelangt, dass es im Produktionsprozess Klassen gibt, die sich darin unterscheiden, ob der eine Eigentümer von Produktionsmittel ist und der andere nicht, ist gemäß Verfassungsschutz »verfassungsfeindlich«, also Widersacher gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Da kann ja die Crème de la Crème der bürgerlichen Historiker und Ökonomen des Kapitalismus von Glück reden, nicht in Deutschland im Jahre 2021 gelebt zu haben, denn auch sie haben die Gesellschaftsmitglieder nach »produktionsorientierter Klassenzugehörigkeit« aufgeteilt, nicht erst dieser Karl Marx. In dem berühmten Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852 schrieb Marx:
»Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt.«
Zuzustimmen ist natürlich der Bundesregierung, dass dieser Klassenantagonismus der Menschenwürde widerspricht, weil auf Grund des heutigen Standes der Produktivkräfte und einer damit verbundenen Überproduktion von Konsumgütern, dafür keine Notwendigkeit mehr besteht. Aber der Klassenantagonismus verschwindet genauso wenig wie das kopernikanische Weltbild oder die Unendlichkeit des Universums, auch wenn Machtinstitutionen Derartiges dekretieren oder als »linksextremistisch« kriminalisieren.
Mächte jeder Couleur hatten seit jeher Schwierigkeiten mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden, die die herrschende Ordnung ins Wanken bringen könnten. Wenn sich Macht gegen Wissenschaft richtet, demonstriert sie meist in erschreckender Weise, inwieweit sie der Zeit und ihren Erfordernissen hinterherhinkt. Wir sind uns aber sicher, dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit – manchmal gibt es jähe Wendungen – den harten Stein besiegen wird, wozu Tages- und Wochenschriften einen kleinen Beitrag zu leisten imstande sind.