Ein Besuch in Lützerath, am Rande von Garzweiler II, verändert die politische Perspektive. Wer nicht nur die Entscheidung der Bundesregierung zum Kohleausstieg und Lützeraths Todesurteil, sondern das Dorf und seine neuen BewohnerInnen ernst nimmt, dem dämmert, dass die Fokussierung der friedenspolitischen Diskussionen auf den Krieg in der Ukraine, auf seine Ursachen und seine Folgen, andere existenziell beängstigende Ereignisse und Entwicklungen verdrängt, mit einem doppelt problematischen Effekt: Erstens wird die Gefahr, die von den politischen Entscheidungen in Deutschland und in Europa ausgeht, unterschätzt, zweitens findet der unbeugsame Widerstand derjenigen, die begriffen haben, welche Akzente gesetzt werden müssen, um unser Überleben zu sichern, keine angemessene Aufmerksamkeit.
Am Tagebau Garzweiler II, 5 km Luftlinie von meinem Zuhause entfernt, wird ein so wichtiger wie aussichtsloser Kampf geführt: Junge Menschen verteidigen unser aller Zukunft und werden demnächst mit Polizeigewalt vertrieben werden. So notwendig Appelle, Konferenzen, Diskussionen usw. zu Bombardierungen, Waffenlieferungen und Atomkriegsbefürchtungen sind, die an ihnen Beteiligten sollten nicht aus dem Blick verlieren, was am Tagebau geschieht: Die Aktiven dort bringen in den globalen Fokus, dass nicht primär der Krieg in der Ukraine, sondern der drohende Klimakollaps das ultimative Desaster für die Menschheit ist.
Auch wenn der mögliche Einsatz von Atomwaffen uns um unsere Zukunft bangen lassen mag, ist es fahrlässig, die verhängnisvollsten Konsequenzen der militärischen Operationen in der Ukraine auszublenden: Sie heizen die klimatische Apokalypse wie ein Brandbeschleuniger an, gleich dreifach, denn
– die eingesetzten Waffensysteme und die Vernichtung von infrastruktureller Substanz in der Ukraine haben gravierende Umweltzerstörungen zur Folge, sie führen zu schwersten Klimabelastungen;
– der angeblich zwangsläufige, in Wirklichkeit aber sinnlose Wirtschaftskrieg, den »der Westen« begonnen hat, mündet in einer Verlängerung der Nutzung fossiler Energieträger, die von allen – IPCC, Club of Rome und Tausenden WissenschaftlerInnen – abgelehnt wird, weil sie die als unerlässlich angesehenen notwendigen sofortigen Schritte zu deren Reduzierung mit irreparablen Folgen für die Erderwärmung ausbremst;
– die unbezweifelbare und unwiderlegbare Notwendigkeit, dass alle globalen AkteurInnen gemeinsam gegen die drohende Klimakatastrophe systematisch vorgehen, um der Menschheit ein Überleben zu sichern, wird dem angeblichen Zwang, Russland ruinieren zu müssen und deshalb nur noch die Waffen und keine Diplomatie mehr sprechen zu lassen, auf fahrlässige und selbstzerstörerische Weise geopfert.
Diese klimaschädigenden Begleiterscheinungen des Krieges spielen in den politischen Debatten eine untergeordnete Rolle. Die Folgen dieser Blickverengung spüren nicht nur die überwiegend jungen Klima-KämpferInnen, sondern wir alle, denn sie gibt indirekt den politischen Hasardeuren, den weltweit agierenden fossilen Konzernen und, last not least, den aus ihnen horrende Profite ziehenden FinanzinvestorInnen grünes Licht für die definitive Zerstörung der globalen Bedingungen für menschliches Leben.
Zwei Beiträge aus der Rheinischen Post zu Lützerath und einer aus der taz zur Widerstandsgruppe »Die letzte Generation«, alle in der 42. Woche dieses Jahres erschienen, könnten als Weckruf für das Ringen um die Zukunft dienen. Eine der jungen AktivistInnen, Amaka Baum, weiß, wovon sie spricht: »Ihr Zuhause, das ist ein Haus, hoch oben in den Wipfeln einiger Bäume, die sie Lütziwald nennt. Und ihr Zuhause, das ist der Planet Erde. Verschwindet das eine Zuhause, ist das andere kaum noch zu retten, sagt sie.« Wer in Lützerath dieses endlos erscheinende Baggerloch auf sich wirken lässt und die Mahnungen der WissenschaftlerInnen und selbst des UNO-Generalsekretärs präsent hat, weiß, dass diese einfachen Worte auf den Punkt bringen, was die Menschheit bedrängt: Der Klimakollaps steht nicht vor der Tür, er hat die Schwelle längst überschritten. Wer an dieser Tatsache noch zweifelt, sollte nach Oberhausen in das dortige Gasometer fahren, in dem die Ausstellung »Das zerbrechliche Paradies« (bis November 2023 verlängert) in eindrucksvoller und bewegender Weise ins Bild setzt, welches überwältigende Paradies der Globus für uns ist und in welchem Ausmaß wir Menschen es schon zerstört haben.
Während die friedenspolitische Orchestrierung versucht, sich über kriegsverschärfende Waffenlieferungen, verelendende Sanktionen und notwendige Verhandlungen abzustimmen, führen die Teens und Twens von »Ende Gelände«, »Extinction Rebellion« und »Die letzte Generation« ihren Eltern und Großeltern vor Augen, was sie als nötig erachten: Den laufenden Betrieb der politischen Selbstermächtigung zum Kriegführen, die ökonomische Profitoptimierung und die ökologischen Zerstörungsprozesse zu stoppen, nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Die jungen WiderstandskämpferInnen schenken keiner Phrase, keiner Floskel, keinem Euphemismus mehr Glauben. Egal, ob sie auf Bagger klettern, ihre Hände auf vierspurigen Straßen festkleben oder Kreuzungen von Stadtautobahnen blockieren: Worte bremsen das politisch-ökonomische Kartell mit seiner kriegerischen Dynamik gegen Menschen und gegen die Natur schon lange nicht mehr, sondern Handlungen, die es spürbar irritieren, sind notwendig. Hinter ihrem Aktionsfundus wird eine historische Logik erkennbar, die selbst den »Linken« unter den friedenspolitischen Aktiven verloren gegangen zu sein scheint: »Wenn Dein starker Arm es will, stehen alle Räder still.« So plakativ und simpel dieser kurze Satz, so tief und nachhaltig seine Wirkung, und dass einstmals Gewerkschaften ihn zur Parole gemacht hatten, weil sie ihre Stärke kannten, wissen die Jungen wahrscheinlich nicht, aber ihr Feeling, ihre Ahnung, ihre Resilienz in Bezug auf die herrschenden, tendenziell alles Lebendige vernichtenden neo-liberalen Verhältnisse lässt sie die richtigen, weil angemessenen Konsequenzen aus ihren Erfahrungen und ihren Sorgen um ihre – und unsere – Zukunft ziehen.
Mit ihren widerständigen Aktivitäten drängen die jungen Frauen und Männer ihrer Elterngeneration Fragen auf: Ob es für notwendige politische Veränderungen reicht, wortreich zu intervenieren und hier und da mal auf der Straße zu protestieren, aber im Übrigen ihren gewohnten, also kolonialistisch unterfütterten Alltag und ihren in der Regel gut bezahlten Job als Beitrag zum weiterhin reibungslosen Funktionieren des gesellschaftlichen Status quo zu leben. Wann, wenn nicht jetzt, angesichts der Bedrohung unserer und der Zukunft unserer Kinder, hätte es je angemessenere Gründe für kompromisslose Handlungsoptionen gegeben?
Nicht nur HoffnungsträgerInnen für die Zukunft, sondern auch praktische Impulsgeber sind die jungen WiderstandskämpferInnen geworden. An ihre Aktionen könnten friedenspolitische und gesellschaftskritische Aktivitäten andocken. Wo sie sich bemerkbar machen, wo sie »wider den Stachel löcken«, wo sie nachdrücklich demonstrieren, dass sie nicht zulassen wollen, um ihre Zukunft betrogen zu werden, wäre massenhafte Unterstützung gefragt: Nicht nur 20jährige, sondern auch Menschen ihrer Eltern- und Großelterngeneration, die bis heute die Klimakatastrophe mitzuverantworten haben, könnten sich auf Straßen setzen, Werkstore von Rheinmetall blockieren, Autobahnen stilllegen, massenhaft schwarz mit dem ÖPNV fahren, bis das 9-Euro-Ticket zur Regel geworden ist. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, um die Botschaft zu verbreiten: Wir wollen keine Gesellschaft mehr, in der die Reichen auf Kosten der Armen immer reicher werden; in der Energiekonzerne jahrzehntelang Milliardengewinne eingefahren haben, zu Lasten der Menschen, die jetzt durch milliardenschwere Entschädigungen für die Profiteure aus Steuergeldern noch verhöhnt werden; in der mit Kriegsrhetorik der Ausbau fossiler Energieträger selbstmörderisch gerechtfertigt wird; in der zum Nachteil der Menschen weltweit immer mehr Waffen auch diplomatische und zivile Konfliktlösungen vernichten; in der die Bereitschaft der politisch Verantwortlichen zu immer mehr Kriegen gegen Menschen und gegen die Natur zur Regel geworden ist.
Auf nach Lützerath, so müsste die Parole der Friedensbewegung lauten. In Lützerath selbst fehlt der Platz für – sagen wir mal - fünfzigtausend Menschen, aber in Erkelenz, dem Hauptort, könnte die nächste spektakuläre Aktion stattfinden: Gegen den sanktionsgeladenen, den klimazerstörenden Krieg in der Ukraine. Und von dort wäre problemlos einige Kilometer an den Tagebau und dann nach Lützerath zu wandern, um den Aktivistinnen Solidarität zu bekunden – und Dankbarkeit, dass sie mit ihrer Ausdauer und Hartnäckigkeit, mit ihrer klima- und gesellschaftspolitischen Klarheit und Konsequenz, ihren Eltern und Großeltern endlich die Augen geöffnet haben, wie sie die Gesellschaft, in der sie leben, verändern, deren heuchlerische und verlogene ProtagonistInnen vertreiben und die Notwendigkeiten, alle Kriege sofort zu beenden, praktisch umsetzen könnten.
Auch der Krieg in der Ukraine entscheidet sich nicht auf dem dortigen Schlachtfeld, sondern in Lützerath. Was erst einmal verrückt klingt, macht, zukunftslastig betrachtet, Sinn: Die jungen AktivistInnen wissen, dass jede abgebaggerte Tonne Kohle zwei zu viel sind, dass jeder Kubikmeter Frackinggas den Meeresspiegel steigen lässt, dass jeder neue Autobahnkilometer schneller in den klimatischen Abgrund führt. Der politisch-ökonomische Terror gegen die klimaschützenden BewohnerInnen eines kleinen Dorfes am Niederrhein ist zum Symbol für den Versuch geworden, das menschen- und klimafeindliche neo-liberale Gesellschaftsmodell über Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen triumphieren zu lassen. Der Widerstand gegen ihn vor Ort vermittelt eine plastische Vorstellung davon, dass kriegerische Lösungen der Konflikte zwischen menschlichen Bedürfnissen und Profitinteressen die Existenz aller Menschen bedrohen. Diese Wahrheit ist in den jungen Menschen der verschiedenen Widerstandsbewegungen tief verwurzelt, sie gibt ihnen die Kraft, auszuharren, sich nicht verschrecken zu lassen. Begegnungen mit ihnen an der Lützerather Abbruchkante und Blicke in dieses unvorstellbar erschütternde Baggerloch könnten im eigenen Denken, Fühlen und Handeln widerständige Impulse auslösen.