Ein einsames Schloss unweit von Berlin. Es war lange von der Zivilisation vergessen, verlassen, verloren, eben »lost«. Man nähert sich von der Hauptstraße aus, biegt rechts ab und durchquert den Wald, der still und stumm dasteht, wie aus der Zeit gefallen. Ein Pförtnerhäuschen aus DDR-Zeiten modert vor sich hin. Irgendwann macht der Weg eine Biegung nach rechts, und da ist er dann, der Moment der Spannung nach der langen Suche, der den Ausflug so aufregend macht. Was ist wohl hinter der Kurve? Es ist die Rückseite von Schloss Dammsmühle in Schönwalde, die nicht darauf schließen lässt, dass dort ein Luxushotel am Entstehen ist. Ein Zaun mit den mahnenden Worten »Betreten verboten« trennt die Besucher von dem Gebäude, das sich in einer Art Schwebezustand befindet. Nicht mehr ganz »Lost Place«, aber auch lange noch kein Luxus-Wellness-Palast für gut betuchte Reisende, die dort einmal bespaßt werden sollen.
Man hält kurz inne und lässt die Atmosphäre auf sich wirken, und das kann durchaus meditativ sein. Efeu bahnt sich den Weg durch das Gemäuer. Auf der Vorderseite erstrahlt ein Teil des Schlosses dann bereits in strahlendem Weiß, das dem Zauber der seit Jahren leer stehenden Immobilie dennoch ein wenig das Geheimnisvolle nimmt. Die Farbe Weiß will so gar nicht zu einem verlorenen Ort passen, eigentlich stört sie brutal die Aura des Ortes. Denn alle »Lost Places« auf der ganzen Welt haben eins gemeinsam: sie verfallen, weil sie verlassen oder aufgegeben wurden.
Und seit geraumer Zeit sind diese Orte sehr beliebt, eine Art »Dark Tourism« ist entstanden, doch belegbare Zahlen über die Anzahl der Menschen, die in Deutschland diesem Hobby frönen, gibt es wohl nicht. Es ist zudem kein deutsches Phänomen, sondern ein weltweites. Fotobände über dieses überregionale Thema boomen. Veranstalter, wie die Berliner Agentur »go2know«, bieten sogar mehrtägige Fototouren zu verschiedenen verlassenen Objekten an. Dort geben die Teilnehmer sich dann kollektiv dem leichten Gruseln hin, aber immer auch mit dem Ziel, das Ganze visuell zu dokumentieren. Und Lost Places-Orte gibt es in Berlin und in Brandenburg reichlich: Klassiker wie den verlassenen »Spreepark-Berlin«, die verfallene Radarstation auf dem Teufelsberg oder die längst legendären Beelitzer Heilstätten. Dabei sind die Motive für eine solche Freizeitgestaltung wohl vielfältig. Und recht profan geht es dabei mitunter auch zu. Denn manch einer sucht tatsächlich nur den Kick, den Reiz des Verbotenen, will sich vielleicht sogar ein wenig gruseln. Andere wiederum haben ganz andere Ansprüche, wollen möglichst atmosphärische Fotos machen, um sie den staunenden Fans im Internet zu präsentieren. Die Orte, die Geschichten, die sie nicht zuletzt auch erzählen, faszinieren sie, und so begeben sie sich spielerisch auf die Reise in die Vergangenheit, um die einstige Atmosphäre ein wenig zu spüren, so wie in den alten verlassenen Villen und Gebäuden der untergegangenen Industriekultur, von der es in Berlin ebenfalls reichhaltige Zeugnisse gibt. Möglich, dass dem Thema Parapsychologie zugeneigte Reisende auch nach Beweisen für eine Existenz nach dem Tod suchen, nach Geistern Ausschau halten. Des Abends von dem Ausflug heimgekehrt, schauen sie dann Sendungen, in denen Geisterjäger in alten Gemäuern suchend herumschleichen, auch das ist ein Trend, der aus den angelsächsischen Ländern herübergeschwappt ist.
Vor allem in England, dem traditionellen Land der Mythen und Legenden, ist man dem Thema von jeher nicht abgeneigt und verbringt seine Weihnachtsabende schon mal damit, sich mit Gruselgeschichten von M. R. James in Stimmung für den Weihnachtsmann zu bringen. Verfilmt worden sind einige dieser Geschichten auch schon, sie werden als »Ghost Stories for Christmas« im Fernsehen präsentiert.
Die Gründe, sich auf Lost Places-Reise zu begeben sind so vielfältig wie die Menschen selber und die Orte, an die sie pilgern. Dabei ist das ganze Spektrum eine Art Selbstbedienungsladen, aus dem sich jeder Interessierte genau das heraussuchen kann, was zu ihm passt, weil das Thema eine ganze Fülle von Bereichen betrifft. Und das sind unter anderem Fotografie, Architektur, Kunst, Kultur, Theologie, Parapsychologie und sogar Kriminalgeschichte, wenn verlassene Orte aufgesucht werden, an denen ein Verbrechen geschah. Mitunter kann es aber auch eine sehr persönliche Sache sein, nämlich eine gewisse Sinnsuche: die Suche nach dem Unbekannten, das Stellen von Fragen mithilfe eben dieser »Lost Places«, und das ist vor allem die: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und beinharte Skeptiker, die mit Spuk, Geistern und Mystik nichts am Hut haben, mögen vielleicht sogar selber ein wenig ins Grübeln kommen und sich fragen, könnte da vielleicht doch etwas dran sein? Spuken in den Beelitzer Heilstätten tatsächlich noch die Seelen der Menschen, die dort in der ehemaligen Lungenheilstätte gestorben sind, die dort gelitten haben, die vielleicht qualvoll zu Tode gekommen sind? Denn das ist nämlich auch ein beliebtes Thema bei Lost Places-Fans, nämlich genau solche Orte aufzusuchen, die mit Tod und Krankheit in Verbindung stehen, seien es nun Friedhöfe, alte Kirchen, aufgegebene Dörfer, Orte, an denen Menschen durch Krankheiten zu Tode kamen. Oder eben wahnsinnig wurden. »Dark Tourism« für Verwegene.
Tatsächlich kann die mitunter einsame, etwas geheimnisvolle Atmosphäre eines solchen Ortes Spuren im Erleben hinterlassen: Stand da oben nicht eben jemand hinter dem Fenster und schaute hinaus? Und huschte da nicht gerade eine weiße Gestalt durch die dunklen Bäume? War das etwa die legendäre weiße Frau, die im Berliner Raum im Volksglauben verwurzelt ist? Und dort drüben, im Schilf, am anderen Ende des Sees, das sieht aus, wie eine Gestalt, die herüberstarrt. Spukt es hier vielleicht? Oder hat die Autorin, die – ganz ehrlich – nicht esoterisch veranlagt ist – aber ein Faible für Geistergeschichten aus England hat, zu oft den Gruselklassiker »The Innocents« (Schloss der Verdammten) gesehen, bei dem ein See mit Schilf der Ort ist, an dem sich eine verlorene Seele den Lebenden zeigt. Natürlich im Schilf. Denn das raschelte so schön geheimnisvoll und verstörte damals nachhaltig die arme Debora Kerr, die als glücklose Gouvernante durch den Film irrte.
Um die Frage, warum die ganze Angelegenheit in der letzten Zeit so besonders populär geworden ist, müssen sich aber wohl Psychologen und Soziologen kümmern. Ist es nur ein Trend, der wieder vergehen wird? Wie zum Beispiel der Okkultismusboom der 1920er-Jahre, der die Berliner in Scharen zu Okkultisten trieb, die sich aber so gut wie alle als Scharlatane erwiesen. War es und ist es tatsächlich auch eine Sinnsuche? Vielleicht sogar eine spirituelle Erfahrung? Weniger spirituell sind die Orte, an denen einst die Industrie boomte und die den Lauf der Zeit nicht intakt überstanden haben. Mitunter liegen sie seit der Wende brach und fristen ein einsames und trauriges Dasein als Ruine. Man weiß nicht so recht, was man damit anfangen soll, was die zukünftige Bestimmung des Ganzen sein soll. Besucher verschaffen sich heimlich Zugang durch offene Stellen im Zaun, erkunden das Areal.
Es gibt jedoch Orte, an denen der »Lost Places«-Zauber mitunter versagt. In Fürstenberg an der Havel stehen etwas außerhalb des Stadtkerns noch heute verfallene Villen, in denen hochrangiges SS-Wachpersonal des nahegelegenen Konzentrationslagers Ravensbrück residierte, während unweit der Luxusherbergen die Menschen reihenweise starben. Und da ist Schluss mit lustig, der Zauber perdu, die Atmosphäre einfach nur noch grauenhaft. Hinfort ihr Geister, zurück in die Hölle, da wo ihr hingehört!