Stillstand am Tage, festgefrorenes Leben, ungläubiges Erstaunen. Geschlossene Cafés, halbverwaiste Geschäfte. Findet das Leben in Corona-Zeiten nachts statt? Oder vielleicht im Verborgenen? Und wenn ja, was tritt dann zutage?
Gut, Oberflächlichkeiten haben sich fortgesetzt. Kinder und Jugendliche spielen mehr Computerspiele als je zuvor, beängstigend mehr. Eltern, überfordert damit, ihre Kinder bisweilen den ganzen Tag um sich zu haben, setzen keine Grenzen, froh darüber, dass sie irgendwie beschäftigt sind. Wozu aber hat man Kinder, wenn man sie nicht um sich herum ertragen kann?
Die Gesellschaft ruht in weiten Teilen, das konsumistische Weltbild gerät ins Wanken, bekommt es Risse über Corona-Zeiten hinaus? Man müsste es verneinen, wenn man sieht, mit wieviel Lust nach dem ersten Lockdown im Frühjahr die Geschäfte gestürmt wurden, die Bars, die Events. Mit wieviel aufgestauter Wut auch. Die Zwangs-Partikularisten suchten das Gemeinschaftserlebnis wieder in den alten Bahnen. Wird es diesmal ähnlich sein? Kurze Pause eingelegt und dann alles wieder so wie vorher?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht ganz. Denn da trat in den Wochen des Stillstands etwas zutage, das immer da gewesen war, das aber unsichtbar, unter tieferen Schichten verborgen dahinfloss. Da war plötzlich die Sehnsucht nach geistreichen Antworten auf unser Leben spürbar, vielleicht auch nur nach geistreicher Unterhaltung. Aber immerhin. Es bildeten sich Internetplattformen mit anspruchsvoller Literatur. Mit Lyrik vor allem, die die Schriftsteller selber vortrugen, weil sich Videoclips mit Gedichten schnell produzieren und ins Internet stellen lassen. Lyrik, die es sonst schwer hat. Wer kauft schon Gedichtbände?
Der PEN, Deutschlands wichtigster Schriftstellerverband, hat so etwas in einer langen Lesereihe auf seiner Website gemacht, er macht es auch jetzt wieder und postet dort und auf seiner Facebook-Seite kurze, nachdenkliche Texte. »Plätzchen für Literatur« nennt er das. Aber es gab auch beim ersten Lockdown schon private Gruppen, die spürten, dass es für so ein Angebot eine Nachfrage gab. »Mit Poesie durch Pandemie«, hieß eine solche Gruppe, die moderne Lyrik anbot. Selbst ein Theater wie Konstanz, das die Tore geschlossen halten musste, bot auf seiner Internetpräsenz Literatur an. Lesungen mit sogar langen Prosatexten.
Im Frühjahr durften Baumärkte geöffnet bleiben, die Buchhandlungen mussten schließen. Auch jetzt durften lange Sexshops und Dekorationsgeschäfte in Bayern geöffnet bleiben, während Bibliotheken geschlossen wurden. Verstehe das, wer will. Ein Protest formierte sich: »Auch Literatur ist systemrelevant«, wurde und wird argumentiert, sie ist auch ein »Lebensmittel«. Und es gab viel Zustimmung für den Protest. Bücher konnten nicht nur bei Amazon, sondern auch beim örtlichen Buchhandel bestellt werden und wurden frei Haus geliefert. Der Protest zeigte Folgen, es wurden neue Wege gefunden, um Bücher an die Käufer zu bringen.
Andere Sparten der Kunst fanden ähnliche Wege. Der Pianist zum Beispiel, der für einen einzigen Zuhörer spielt, der also jemand zum »Anspielen« hat und dann den Vortrag ins Internet stellt.
Neue Formen der Kunstvermittlung im Internet wurden geboren, freilich muss noch die Frage der Bezahlung geklärt werden. Künstler brauchen auch in Corona-Zeiten Geld zum Leben.
Es war so etwas wie Nachdenklichkeit spürbar, das war im Frühjahr so und bewahrheitet sich auch jetzt wieder. Ich selbst poste auf meiner Facebook-Seite gern Gedichte, sie werden wieder so häufig gelikt wie im Frühjahr. Es ist, als wenn sich wenigstens ein Teil der Bevölkerung auf eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben einlassen will. Kunst ist dafür allemal ein gutes Medium.
Das alles wird wieder absinken in die tieferen Schichten, aus denen es aufgetaucht ist, vermute ich. Aber dennoch, es war und ist spürbar. Und nichts, was mal war, geht gänzlich verloren. Es gilt anzuknüpfen an diese Formen, es gilt anzuknüpfen an Themen, die dem Leser Orientierung bieten, die er sucht. Nicht in oberflächlicher Exotik liegt die Lösung, nicht in dem dümmlichen Kritikergeschwätz, dass jemand, der Aussagen zum Alltag trifft und somit Werte vertritt, old-fashioned sei. Alles Quatsch. Notsituationen bringen es an den Tag, es wird nach Orientierung, nach Werten gesucht. Anspruchsvolle Kunst kann das leisten.
Die Kunst hat versucht, Lücken zu schließen, dem Mitmenschen Antworten auf bewusste oder unbewusste Fragen zu geben. Die Kirche hat einen ähnlichen Weg beschritten, hat Internetauftritte organisiert. Keine schlechte Nachbarschaft, Kunst, speziell die Literatur, und Kirche. Denn der Satz, dass wir in einer säkularen Welt leben, ist doch so falsch wie jener, dass wahre Kunst keine Werte vertreten soll. Als die Menschen die Bilder von 9/11 im Fernsehen sahen, sind viele in die Kirchen gelaufen. Glocken haben geläutet.
Der dümmliche Satz, dass man einfach so in den Tag hineinleben kann und soll, dass man nur im Hier und Jetzt leben sollte, ist schnell widerlegt. Das Hier und das Jetzt befriedigen nicht. Wieso soll ich nur im Hier leben. Die Welt ist vielfältig, es gehört zur Würdigung der Schöpfung, dass ich sie mir ansehe und nicht an einem Ort verharre. Und das Jetzt? Schon Schiller wusste, was davon zu halten ist:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen
pfeilschnell ist das Jetzt verflogen
ewig still steht die Vergangenheit
Die Corona-Beschränkungen entlarven manches, was sich als zeitgemäß ausgibt und doch nur oberflächliches Nichtverstehen der Welt ist, als genau das. Gut, manche bemerken das nicht. Sie ziehen den Kopf ein und warten auf Entwarnung, bis sie ihr altes Leben fortsetzen können. Einige aber auch nicht. Ich spüre in dem Bereich, in dem ich mich tummle, in der Literatur, genau das. Es gibt eine Sehnsucht nach Nachdenklichkeit und auch nach Werten. Mag sein, dass wieder absinkt, was zutage tritt, aber es ist da. Und wir tun gut daran, genau darauf zu reagieren. Die Kunst und auf ihre Weise auch die Kirchen.