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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lieber tot als rot?

Der 8. Mai wird in vie­len Län­dern als Tag der Befrei­ung von Krieg und faschi­sti­scher Bar­ba­rei fei­er­lich began­gen – in Russ­land und den Län­dern der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on fei­ert man den 9. Mai als Tag des Sie­ges über Nazi­deutsch­land. 2021 jähr­te sich die­ser Tag zum 76igsten Male. Seit 76 Jah­ren war Schluss mit staat­li­chem Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus, mit grau­sa­mer Gewalt gegen Anti­fa­schi­sten, mit dem deut­schen Her­ren­men­schen­tum und mit dem mil­lio­nen­fach mör­de­ri­schen Raub­krieg der Nazis.

Es folg­ten in der BRD vie­le Jah­re, in denen der Nazis­mus nicht auf­ge­ar­bei­tet wur­de, Jah­re der Restau­ra­ti­on in der Poli­tik, in der Justiz und vor allem in der Wirt­schaft; Jah­re der erneu­ten Ver­fol­gung von Anti­fa­schi­sten, des erneu­ten Ver­bo­tes der KPD. Die exi­sten­zi­el­le Bedro­hung der Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes – Bund der Anti­fa­schi­stin­nen und Anti­fa­schi­sten (VVN-BdA) ist bis heu­te nicht been­det. Es waren Jah­re mit erneu­tem Nazi­ter­ror und Nazi­mor­den, die von Poli­zei und Justiz lan­ge nicht kon­se­quent ver­folgt, teils sogar unter­stützt und durch V-Män­ner der Geheim­dien­ste finan­ziert wurden.

Es brauch­te vier Jahr­zehn­te und die beein­drucken­de Rede des dama­li­gen Bun­des­prä­si­den­ten Richard von Weiz­säcker zum 40. Jah­res­tag 1985, um vom »Tag der Nie­der­la­ge« oder vom »Tag der Kapi­tu­la­ti­on« zum »Tag der Befrei­ung« zu kommen.

Auch die­ses Jahr gab es vie­le Ver­an­stal­tun­gen im gan­zen Land. Auch der Land­tag von Sach­sen-Anhalt fühl­te sich in der Pflicht (https://www.youtube.com/watch?v=mCRqrQjcUqk). Die Fest­re­de hielt Frau Prof. Sil­ke Sat­ju­kow von der Uni Hal­le. Zum Ver­hält­nis der sowje­ti­schen Sol­da­ten zur deut­schen Bevöl­ke­rung und zu den Gräu­eln, die die Befrei­er in der Ukrai­ne, in Polen, in Ausch­witz und anders­wo sehen muss­ten, sag­te sie: »Ähn­lich wie die Deut­schen glaub­ten auch die Rot­ar­mi­sten, wen sie in Deutsch­land vor­fin­den wür­den: Besti­en näm­lich, die in der eige­nen Höh­le zu töten sei­en.« Als Beleg zitier­te sie einen Zeit­zeu­gen: »Rot­ar­mi­sten lie­ßen ihrem Hass und ihrer Wut frei­en Lauf! Die Sol­da­ten woll­ten Rache neh­men und sie nah­men Rache.« Dann ergänz­te sie in eige­nen Wor­ten: »Auch in der Sowjet­uni­on hat die Pro­pa­gan­da gan­ze Arbeit gelei­stet. Der bekann­te Publi­zist Ilja Ehren­burg hat­te in einem Flug­blatt gefor­dert: Wir wer­den nicht reden. Wir wer­den uns nicht empö­ren. Wir wer­den töten. Wenn du im Lau­fe des Tages nicht einen Deut­schen getö­tet hast, ist dein Tag ver­lo­ren. Töte den Deutschen!«

Ande­re, nicht Frau Sat­ju­kow, fügen seit Jahr­zehn­ten anti­rus­si­scher und anti­so­wje­ti­scher Pro­pa­gan­da in der Tra­di­ti­on von Goeb­bels hin­zu, Ehren­burg habe die Sol­da­ten auf­ge­for­dert, deut­sche Frau­en zu ver­ge­wal­ti­gen (Der Spie­gel 36/​1962). Das soll er übri­gens im Juli 1942, ein Jahr nach dem Über­fall auf die Sowjet­uni­on und dem Beginn des Ver­nich­tungs­krie­ges gesagt haben. Som­mer 1942: Die Schlacht um Mos­kau war für die Nazi­wehr­macht ver­lo­ren. Lenin­grad war einer Hun­ger­blocka­de aus­ge­setzt, und die Nazi­wehr­macht berei­te­te den Angriff auf Sta­lin­grad an der Wol­ga vor.

Text­ana­ly­tisch bleibt fest­zu­hal­ten: Zum 76. Jah­res­tag der Befrei­ung bezieht sich die Fest­red­ne­rin des Land­ta­ges von Sach­sen-Anhalt auf Nazi-Pro­pa­gan­da, um dann zu behaup­ten, auch in der Sowjet­uni­on habe die Pro­pa­gan­da gan­ze Arbeit gelei­stet – als wären der Über­fall auf die Sowjet­uni­on und der Ver­nich­tungs­krieg der Nazis eine Ein­bil­dung gewesen.

Ilja Ehren­burg selbst schreibt in sei­nen Memoi­ren (»Men­schen Jah­re Leben«, Ber­lin 1978, Bd. 3, S. 31): »Goeb­bels brauch­te ein Schreck­ge­spenst, des­halb ver­brei­te­te er die Legen­de von dem Juden Ilja Ehren­burg, der danach lech­ze, das deut­sche Volk zu liqui­die­ren. Ich besit­ze noch deut­sche Zei­tungs­aus­schnit­te, Rund­funk­auf­nah­men und Flug­blät­ter. Die Nazis schrie­ben, ich sei ein blut­rün­sti­ger Dick­wanst mit Schielau­gen und krum­mer Nase, hät­te in Spa­ni­en Muse­ums­schät­ze im Wert von 15 Mil­lio­nen Mark gestoh­len und in der Schweiz ver­kauft (…), gin­ge bei Sta­lin ein und aus und hät­te ihm einen Plan zur Ver­nich­tung Euro­pas, den ›Trust D.E.‹, unter­brei­tet, nach dem alles Land zwi­schen Oder und Rhein in eine Wüste ver­wan­delt wer­den soll­te. Und schließ­lich soll­te ich dazu auf­ge­ru­fen haben, deut­sche Frau­en zu ver­ge­wal­ti­gen und deut­sche Kin­der zu ermorden.«

Wie wirk­sam die­se Nazi­pro­pa­gan­da war, zeigt ein wei­te­res Zeit­zeu­gen­zi­tat, das Frau Prof. Sat­ju­kow bemüht. Im Zusam­men­hang mit der Beset­zung der Pro­vinz Sach­sen-Anhalt durch die Sowje­ti­sche Armee habe jemand gesagt: »An die­sem Tag, das war uns klar, war die Gren­ze Asi­ens mit­ten nach Deutsch­land ver­legt worden.«

Das war ein wirk­lich erstaun­li­cher »Jubiläums«-Beitrag im Land­tag von Sachsen-
Anhalt. Ein star­kes Stück, das ein Nach­den­ken lohnt. Es fühlt sich an, als soll­te die­ser Tag gar nicht mehr als Jah­res­tag der Befrei­ung ver­stan­den wer­den. Es fühlt sich an, als hät­te es die Rede von Weiz­säcker gar nicht gege­ben. Es fühlt sich an, als soll­te die Geschich­te mal wie­der von den Füßen auf den Kopf gestellt wer­den. Es ist ein wei­te­rer Bau­stein dafür, die alten Ver­hält­nis­se wie­der­her­zu­stel­len – nicht den Faschis­mus, wohl aber den muf­fi­gen und stin­ki­gen Antikommunismus.

Und war­um das alles? So, wie es ist, wird es nicht blei­ben. Die Herr­schen­den bau­en vor, um einen lin­ken Aus­weg aus dem Ver­sa­gen des Kapi­ta­lis­mus zu ver­sper­ren. Das dazu der­art alte anti­kom­mu­ni­sti­sche und anti­rus­si­sche Muster bemüht wer­den, wie die Vor­wür­fe an Ilja Ehren­burg, dass vie­ler­orts sei­tens der CDU Ehren­burg selbst als Stra­ßen­na­me aus­ge­löscht wer­den soll, spricht Bän­de – ist Ilja Ehren­burg doch der Schrift­stel­ler, der Berich­te über die deut­schen Mas­sa­ker an Juden sam­mel­te, die in die welt­weit erste umfas­sen­de Doku­men­ta­ti­on der Shoa mün­den soll­ten. Charles de Gaul­le ver­lieh ihm 1945 den Offi­ziers­or­den der Ehren­le­gi­on. In Sach­sen-Anhalt, in Deutsch­land wird er 76 Jah­re nach der Befrei­ung vom Faschis­mus wie­der als Hass­pre­di­ger vor­ge­führt. Die Kri­se des Kapi­ta­lis­mus wird das natür­lich nicht lösen, ist aber Was­ser auf die Müh­len der Rech­ten in unse­rem Land.