Der 8. Mai wird in vielen Ländern als Tag der Befreiung von Krieg und faschistischer Barbarei feierlich begangen – in Russland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion feiert man den 9. Mai als Tag des Sieges über Nazideutschland. 2021 jährte sich dieser Tag zum 76igsten Male. Seit 76 Jahren war Schluss mit staatlichem Rassismus, Antisemitismus, mit grausamer Gewalt gegen Antifaschisten, mit dem deutschen Herrenmenschentum und mit dem millionenfach mörderischen Raubkrieg der Nazis.
Es folgten in der BRD viele Jahre, in denen der Nazismus nicht aufgearbeitet wurde, Jahre der Restauration in der Politik, in der Justiz und vor allem in der Wirtschaft; Jahre der erneuten Verfolgung von Antifaschisten, des erneuten Verbotes der KPD. Die existenzielle Bedrohung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) ist bis heute nicht beendet. Es waren Jahre mit erneutem Naziterror und Nazimorden, die von Polizei und Justiz lange nicht konsequent verfolgt, teils sogar unterstützt und durch V-Männer der Geheimdienste finanziert wurden.
Es brauchte vier Jahrzehnte und die beeindruckende Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag 1985, um vom »Tag der Niederlage« oder vom »Tag der Kapitulation« zum »Tag der Befreiung« zu kommen.
Auch dieses Jahr gab es viele Veranstaltungen im ganzen Land. Auch der Landtag von Sachsen-Anhalt fühlte sich in der Pflicht (https://www.youtube.com/watch?v=mCRqrQjcUqk). Die Festrede hielt Frau Prof. Silke Satjukow von der Uni Halle. Zum Verhältnis der sowjetischen Soldaten zur deutschen Bevölkerung und zu den Gräueln, die die Befreier in der Ukraine, in Polen, in Auschwitz und anderswo sehen mussten, sagte sie: »Ähnlich wie die Deutschen glaubten auch die Rotarmisten, wen sie in Deutschland vorfinden würden: Bestien nämlich, die in der eigenen Höhle zu töten seien.« Als Beleg zitierte sie einen Zeitzeugen: »Rotarmisten ließen ihrem Hass und ihrer Wut freien Lauf! Die Soldaten wollten Rache nehmen und sie nahmen Rache.« Dann ergänzte sie in eigenen Worten: »Auch in der Sowjetunion hat die Propaganda ganze Arbeit geleistet. Der bekannte Publizist Ilja Ehrenburg hatte in einem Flugblatt gefordert: Wir werden nicht reden. Wir werden uns nicht empören. Wir werden töten. Wenn du im Laufe des Tages nicht einen Deutschen getötet hast, ist dein Tag verloren. Töte den Deutschen!«
Andere, nicht Frau Satjukow, fügen seit Jahrzehnten antirussischer und antisowjetischer Propaganda in der Tradition von Goebbels hinzu, Ehrenburg habe die Soldaten aufgefordert, deutsche Frauen zu vergewaltigen (Der Spiegel 36/1962). Das soll er übrigens im Juli 1942, ein Jahr nach dem Überfall auf die Sowjetunion und dem Beginn des Vernichtungskrieges gesagt haben. Sommer 1942: Die Schlacht um Moskau war für die Naziwehrmacht verloren. Leningrad war einer Hungerblockade ausgesetzt, und die Naziwehrmacht bereitete den Angriff auf Stalingrad an der Wolga vor.
Textanalytisch bleibt festzuhalten: Zum 76. Jahrestag der Befreiung bezieht sich die Festrednerin des Landtages von Sachsen-Anhalt auf Nazi-Propaganda, um dann zu behaupten, auch in der Sowjetunion habe die Propaganda ganze Arbeit geleistet – als wären der Überfall auf die Sowjetunion und der Vernichtungskrieg der Nazis eine Einbildung gewesen.
Ilja Ehrenburg selbst schreibt in seinen Memoiren (»Menschen Jahre Leben«, Berlin 1978, Bd. 3, S. 31): »Goebbels brauchte ein Schreckgespenst, deshalb verbreitete er die Legende von dem Juden Ilja Ehrenburg, der danach lechze, das deutsche Volk zu liquidieren. Ich besitze noch deutsche Zeitungsausschnitte, Rundfunkaufnahmen und Flugblätter. Die Nazis schrieben, ich sei ein blutrünstiger Dickwanst mit Schielaugen und krummer Nase, hätte in Spanien Museumsschätze im Wert von 15 Millionen Mark gestohlen und in der Schweiz verkauft (…), ginge bei Stalin ein und aus und hätte ihm einen Plan zur Vernichtung Europas, den ›Trust D.E.‹, unterbreitet, nach dem alles Land zwischen Oder und Rhein in eine Wüste verwandelt werden sollte. Und schließlich sollte ich dazu aufgerufen haben, deutsche Frauen zu vergewaltigen und deutsche Kinder zu ermorden.«
Wie wirksam diese Nazipropaganda war, zeigt ein weiteres Zeitzeugenzitat, das Frau Prof. Satjukow bemüht. Im Zusammenhang mit der Besetzung der Provinz Sachsen-Anhalt durch die Sowjetische Armee habe jemand gesagt: »An diesem Tag, das war uns klar, war die Grenze Asiens mitten nach Deutschland verlegt worden.«
Das war ein wirklich erstaunlicher »Jubiläums«-Beitrag im Landtag von Sachsen-
Anhalt. Ein starkes Stück, das ein Nachdenken lohnt. Es fühlt sich an, als sollte dieser Tag gar nicht mehr als Jahrestag der Befreiung verstanden werden. Es fühlt sich an, als hätte es die Rede von Weizsäcker gar nicht gegeben. Es fühlt sich an, als sollte die Geschichte mal wieder von den Füßen auf den Kopf gestellt werden. Es ist ein weiterer Baustein dafür, die alten Verhältnisse wiederherzustellen – nicht den Faschismus, wohl aber den muffigen und stinkigen Antikommunismus.
Und warum das alles? So, wie es ist, wird es nicht bleiben. Die Herrschenden bauen vor, um einen linken Ausweg aus dem Versagen des Kapitalismus zu versperren. Das dazu derart alte antikommunistische und antirussische Muster bemüht werden, wie die Vorwürfe an Ilja Ehrenburg, dass vielerorts seitens der CDU Ehrenburg selbst als Straßenname ausgelöscht werden soll, spricht Bände – ist Ilja Ehrenburg doch der Schriftsteller, der Berichte über die deutschen Massaker an Juden sammelte, die in die weltweit erste umfassende Dokumentation der Shoa münden sollten. Charles de Gaulle verlieh ihm 1945 den Offiziersorden der Ehrenlegion. In Sachsen-Anhalt, in Deutschland wird er 76 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus wieder als Hassprediger vorgeführt. Die Krise des Kapitalismus wird das natürlich nicht lösen, ist aber Wasser auf die Mühlen der Rechten in unserem Land.