Vor 80 Jahren geschah in Berlin ein selten beleuchteter Dreifach-Selbstmord. Aber bekanntlich sind Gottes Wege sowieso unerforschlich. Ursprünglich evangelischer Theologe, hatte sich Jochen Klepper (1903-42) nicht, wie sein Erzeuger, aufs Pfarramt, vielmehr auf Freie Schriftstellerei verlegt. Das faschistische Schreibverbot ereilte ihn erst 1937, wurde zudem erst 1942 in Kraft gesetzt. Man hatte Klepper inzwischen, nach rund einjährigem Kriegsdienst, als »wehrunwürdig« eingestuft und zuletzt die ganze Familie mit Deportation bedroht, weil seine (13 Jahre ältere) Ehefrau Johanna und deren jüngere Tochter Renate Stein, wohl 18 Jahre alt, »jüdisch« waren. Im Dezember des Jahres entschlossen sie sich deshalb (angeblich) gemeinsam, in den Tod zu gehen: Schlaftabletten und Gas. An die Wohnungstür hatten sie vorsorglich ein Warnschild geklebt. Die ältere Tochter Brigitte entging diesem Familientod, weil man ihr noch die Ausreise gestattet hatte. Klepper war 39.
Entgegen manchen schöngefärbten Quellen war der glühende Christ Klepper keinesfalls »Widerstandskämpfer«, ja, noch nicht einmal Demokrat. Ohne seine »falsche« Ehe hätte er im »Dritten Reich« kaum Ärger gehabt. Klepper war monarchistisch, also autoritär gestimmt. Neben einem angeblich bedeutenden Tagebuch wird oft sein zweibändiges Werk Der Vater. Roman des Soldatenkönigs (Friedrich Wilhelm I. von Preußen, um 1700) gelobt. Klepper hatte selber einen übermächtigen Vater, entschuldigte ihn aber, wie er alles entschuldigte, mit »Gottes Wille«. Die Arnsberger Freie Publizistin Ursula Homann, geboren 1930, drei Kinder, verhehlt dies alles (auf ihrer Webseite) nicht, scheint es freilich auch nicht für sonderlich betrüblich zu halten. Selbst bei ihr finde ich kein Aufmerken angesichts der Tatsache, dass wir in Kleppers Fall vor einem Dreifach-Selbstmord stehen. Seine ungefähr 18jährige Stieftochter Renate, über die man leider im gesamten Internet buchstäblich nichts erfährt, starb ja ebenfalls – freiwillig? Von den lebensbedrohlichen Aussichten erzwungen? Oder vielleicht doch in erster Linie von ihren Eltern getötet? Möglicherweise wird diese heikle Frage in der vergleichsweise umfangreichen Literatur über Klepper erörtert; ich fürchte freilich, eher nicht.
Wird Kleppers innige Liebe zu seinen Kindern beschworen, gerate ich jedenfalls ins Grübeln. 1933 erzielte er als Journalist und Schriftsteller die erste größere Aufmerksamkeit mit seinem gern als »frech« ausgegebenen Roman Der Kahn der fröhlichen Leute, 1950 sogar verfilmt (Regie Hans Heinrich). Der Roman ist im zeittypischen »coolen« Ton der »Neuen Sachlichkeit« geschrieben, der wahrscheinlich, in seiner Kurzangebundenheit, mitverantwortlich für den Mangel an Anschaulichkeit und Buchklima ist. Nun, das fand man damals geil. Man nahm es dem Autor vermutlich auch nicht übel, dass er sich für diesen Roman aus dem Dunstkreis der zeitgenössischen Oderschifffahrt als Theologe oder sendungsbewusster Laienchrist vollständig in Nebel gehüllt hatte. Die Religion hat nicht den geringsten Anteil an der angeblichen Fröhlichkeit des gesamten Romanpersonals. Die ungefähr 12jährige, blonde Wilhelmine Butenhof, Vollwaise und »Schiffseignerin« eines altersschwachen Frachtkahns, darf sogar ungerügt den Konfirmandenunterricht, ja, sogar die Konfirmation selber schwänzen. Dafür macht sich Klepper einmal unverhohlen über die »frommen Leute in Köben« lustig, »die in den Nachmittagsgottesdienst gingen statt in den Schifferzirkus« (S. 111 in der Ullstein-Ausgabe, Ffm 1984).
Nun mag man die Abwesenheit der Religion in der Tat verschmerzen können, aber leider spielt auch die soziale Frage nicht die geringste Rolle in dem Werk. Ob Fischer, Bauer oder Bäcker, Gutsherr, Tuchfabrikant oder Reichsminister, man hat die jeweils zugemessene Bürde halbwegs redlich – und eben fröhlich zu tragen. Prahlerei ist erlaubt, sogar förderlich. Dem Schiffsjungen ist der Traum von der Kapitänsmütze unbenommen. Es ist ein völlig unkritisches, dazu wenig einfühlsames Buch. Mit Wilhelmine mutet uns Klepper ein Waisenkind zu, das in einem geschlagenen Jahr für keine Minute seine Eltern oder sonst eine Geborgenheit vermisst. Aber verloben muss sich Wilhelmine, am Schluss. Zwei Hochzeiten krönen das Werk. Bis dahin hat das Waisenkind auch das Spielen selten vermisst, denn Klepper hat ihm schließlich die erwähnte Rolle der »Schiffseignerin« verordnet, der eingebildeten Chefin, die bald ein Dutzend Leute zu ernähren glaubt. Dieser an der Oder zwischen Breslau und Stettin aufgefädelte, eigentlich bemerkenswerte Grundeinfall erweist sich dummerweise als Krampfader. Vielleicht hätte Klepper aus seiner Wilhelmine doch lieber die Flusspiratin und Rachefurie machen sollen, von der sie anfangs, nach dem Tod ihrer Eltern und der Übernahme des mürben Kahns unter Aufsicht eines Vormunds, wenigstens einmal träumen darf (S. 38). Aber das wäre, mit Günter Eich aus Lebus an der Oder gesprochen, Sand im Getriebe gewesen. Klepper stammte aus dem nahen Oderstädtchen Beuthen, dieselbe Gegend. Kurz, das Buch ist schlecht. Das hindert jedoch zahlreiche Verlage nicht daran, es bis zur Stunde immer wieder neu aufzulegen.
Erstaunlich differenziert und gründlich äußerte sich 2013 der damalige Regensburger Prälat Bernhard Felmberg in einem Vortrag über Klepper. Der Pastorensohn habe leider von Jugend an – als er häufig an Asthma, Migräne, Schlafstörungen litt und auch schon Selbstmordgedanken hegte – eine befremdliche Neigung zu Gehorsam, Masochismus, Märtyrertum gezeigt. Durch die Heirat kam es zum Bruch mit dem autoritären und antisemitisch gestimmten Vater. Die Frau war vermögend. 1938 wird die Familie wegen den städtebaulichen Plänen der Nazis aus ihrem Haus gesetzt. Gleichwohl dachte Klepper offenbar nie an Flucht. Er habe im Gegenteil wiederholt Ergebenheit und Abwarten dem schließlich von Gott gewollten NS-Staat gegenüber angemahnt. Auch zuletzt habe er verschiedene ungesetzliche Möglichkeiten, seine Stieftochter Renate zu retten, gehorsam ausgeschlagen. Für Klepper sei alles Prüfung durch Gott gewesen.
Bedauerlicherweise traf es dann auch Vortragsredner Felmberg hart (Vortrag Felmberg: https://www.ekd.de/27209.htm, 17. Januar 2013). Er stieg 2020 zum Militärbischof auf und mutierte bald zum Ukraine-Fan. Hoffentlich hat er damit nicht den Keim zum eigenen Selbstmord gelegt.
Jochen Klepper: Der Kahn der fröhlichen Leute, Evangelische Verlagsanstalt 2003, 200 S., 14,95 €.