Es gibt Sätze, die an den Nerv gehen, die man einfach nicht überlesen kann, Sätze wie diesen zum Beispiel: »Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will den Umgang seiner Amtsvorgänger mit der Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten lassen.« Ist etwas passiert, das der Bundespräsident nicht auf sich beruhen lassen kann, das aufgeklärt und – falls möglich – bereinigt werden muss? Eine alarmierende Nachricht, aber niemand fragte bisher danach, was Frank-Walter Steinmeier bewogen haben könnte, den Umgang seiner Amtsvorgänger mit der NS-Zeit aufarbeiten zu lassen.
Bei dem Vorhaben geht es nicht um subalterne Würdenträger, sondern um die höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um nichts Geringeres als deren Umgang mit der Ermordung Abertausender politischer Gegner durch die Nazis, den Umgang mit der fabrikmäßigen Tötung von sechs Millionen Juden, mit dem Vernichtungsfeldzug gegen die Völker Osteuropas und der Niedermetzelung des europäischen Widerstandes gegen den Terror der Nazi-Besatzer.
Ist das Notwendige dazu nicht längst gesagt? Offensichtlich sind die Abgeordneten des Bundestages und die hochmögenden Damen und Herren in den Medien so dickfellig, dass ihnen dergleichen nicht unter die Haut geht. Dabei könnte das Vorhaben darauf hinauslaufen, dass die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand kommt, auch der Umgang mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Er bedürfte – wenigstens das sollte möglich sein – dringend eines Bundesbeauftragten, der gelegentlich darauf hinweist, dass der antifaschistische Widerstand das Gewissen der Nation ist, das moralische Fundament, auf dem die freiheitliche demokratische Grundordnung beruht.
Der eingangs zitierte Satz steht übrigens am Beginn einer Meldung des Evangelischen Pressedienstes, abgedruckt in der Süddeutschen Zeitung vom 13. Dezember 2019 auf Seite 6. Auch andere Zeitungen haben sie veröffentlicht. Was hat den Bundespräsidenten zu seinem Vorgehen veranlasst? Liegen etwa Leichen im Keller des Präsidialamtes, deren Aasgeruch den Bundespräsidenten jetzt nach dem Rechten sehen lässt? Wie das Präsidialamt am 12. Dezember in Berlin mitteilte, wurde an jenem Tag ein Interessenbekundungsverfahren für ein auf zwei Jahre angelegtes Forschungsvorhaben eingeleitet. Dabei soll untersucht werden, wie das Amt und die Bundespräsidenten seit 1949 mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen sind.
Nach Darstellung des Evangelischen Pressedienstes geht es dem Präsidialamt darum zu erforschen, ob es dort personelle oder ideelle Kontinuitäten zur NS-Zeit gab. Zudem solle untersucht werden, wie die Bundespräsidenten im öffentlichen und internen Handeln mit dem Thema Nationalsozialismus umgegangen sind, etwa in Reden, bei Staatsbesuchen, Terminen im Inland, Personalentscheidungen, Gesetzesausfertigungen, Ordensverleihungen oder Begnadigungen. Das Projekt soll der Ausschreibung zufolge Ende März 2022 abgeschlossen sein. Steinmeier knüpfe mit der Forschung an die von ihm angestoßene Aufarbeitung der Geschichte der Berliner Dienstvilla des Bundespräsidenten an. Die Villa in Berlin-Dahlem hatte bis 1933 dem jüdischen Ehepaar Hugo und Maria Heymann gehört. Nach Erkenntnissen der Forscher wurde sie unter dem Druck befürchteter Verfolgung veräußert.
Anscheinend hat der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle den Bundespräsidenten bewogen, mit seinem Vorhaben an die Öffentlichkeit zu gehen. In einer Rede auf dem Gemeindetag des Zentralrates der Juden in Deutschland sagte er: »Wenn wir schweigen, wenn wir nicht verhindern, dass die Atmosphäre in unserem Land weiter vergiftet wird, kann jeder und jede das nächste Ziel sein. Wenn Jüdinnen und Juden in dieser Weise angegriffen werden, dann ist diese Republik in ihrem Herzen angegriffen.« Da ist es nur folgerichtig, dass die Berliner Landesregierung beschlossen hat, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus in diesem Jahr als gesetzlichen Feiertag zu begehen. Unerfüllt bleibt freilich immer noch, was Bundespräsident Gustav Heinemann 1970 gefordert hat: »Es ist Zeit, dass ein freiheitlich-demokratisches Deutschland unsere Geschichte bis in die Schulbücher hinein anders schreibt.«