»Mein Leipzig lob ich mir!«, verkündete einst schon Altmeister Goethe, wie wir in seinem »Faust – Der Tragödie erster Teil« nachlesen können. Weniger bekannt ist, dass er noch hinzufügte: »Es ist ein Klein-Paris, und bildet seine Leute!«
Nach einigen Monaten Abwesenheit führten mich meine Wege mal wieder in die sächsische Großstadt. Grund war die Einladung zu einer Veranstaltung mit dem Titel »Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF«. Das versprach interessant zu werden. Die gleichnamige Studie der Professoren Kießling, Historiker aus Bonn, und Safferling, Jurist aus Erlangen, war bereits Ende 2021 erschienen und hatte mein Interesse geweckt. Mein Schriftwechsel mit einem der Autoren gab der Sache zusätzlich Antrieb. So betrat ich das ehrwürdig anmutende Gebäude des früheren Reichsgerichts, in dem sich seit einigen Jahren das Bundesverwaltungsgericht niedergelassen hat. Als ich das letzte Mal dort war, gab es die DDR noch, und an Veränderungen war nicht zu denken. Am Äußeren und im Inneren des Gebäudes hatte sich nahezu kaum etwas verändert. Manches wurde freilich mit steuerlichen Mitteln aufgehübscht. Als ich dann in der oberen Etage in den sogenannten Großen Sitzungssaal ging, bemerkte ich dann doch den Unterschied. Diese Räumlichkeit hat historische Bedeutung, weil hier der Reichstagsbrandprozess stattfand und Georgi Dimitroff seine berühmte Rede hielt und in der Folge vom Reichsgericht freigesprochen werden musste. Aber auch Karl Liebknecht und Carl von Ossietzky standen in diesem Saal vor Gericht.
In der DDR befand sich hier das Dimitroff-Museum, eine gelungene Dauerausstellung. Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Lediglich ein kleines Hinweisschild neben dem Saaleingang erwähnte den früheren Verwendungszweck. Jetzt wird hier Recht gesprochen, wie man gleich zu Beginn der Veranstaltung vom Hausherrn, dem gegenwärtigen Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, erfuhr. Dann ergriff der eigens aus Karlsruhe angereiste Generalbundesanwalt das Wort, denn es ging in der Studie ja um »sein Haus«, wenngleich auch am anderen Ort. Der Historiker Kießling fasste die Ergebnisse der Studie zusammen. Danach bleibt festzuhalten, dass die frühen Jahre der Generalbundesanwaltschaft nicht nur braun, sondern tiefbraun waren, was jedenfalls die Biografien der allermeisten dort zu dieser Zeit tätigen Juristen anbetrifft. Viele von ihnen waren bereits nach 1933 mit der juristischen Verfolgung von Kommunisten befasst und sollten sich ab 1950 wieder dieser Aufgabe widmen. Der Antikommunismus stand auf der Tagesordnung, nicht nur in den USA, sondern auch in der jungen Bundesrepublik. Das Szenario des Schreckgespenstes wurde weiter gepflegt, als hätte sich nichts geändert. Für viele der verfolgten Kommunistinnen und Kommunisten bedeutete das die Verhängung von Haftstrafen, oft auch verbunden mit der Folge sozialer Ausgrenzung. Die Worte Kießlings bestätigten mir mit Jahrzehnten Verspätung, was viele Zeitzeugen und Betroffene schon immer behaupteten. Das wäre auch eine späte Genugtuung für meinen Mentor Friedrich Karl Kaul gewesen, der viele der Verfolgten damals verteidigte.
Bei dem im Anschluss daran geführten Podiumsgespräch, an dem auch zwei Professoren der Leipziger Universität, ein Jurist und ein Historiker, teilnahmen, kam auch die Frage auf, weshalb Rechtsgeschichte, insbesondere die jüngere, in der gegenwärtigen juristischen Ausbildung so gar keine Rolle spielt. Die Antwort vom Podium war schnell gefunden: Studierende würden vermutlich deshalb kein Interesse für diese Thematik aufbringen, weil sie nicht »examensrelevant« wäre. Sie müssen keine Klausur befürchten und keine Befragung zur Abschlussprüfung. Fazit: Der moderne, karrierebewusste künftige Jurist konzentriert sich nur auf das, was ihm nützlich ist. Ein wenig Hoffnung wurde dann doch versprüht. Im Deutschen Richtergesetz seien jetzt Veränderungen vorgesehen, die zumindest ermöglichen, auch solche Probleme mit in die Ausbildung einzubringen. Dabei war deutlich zu spüren, dass die Akteure auf dem Podium selbst wenig Hoffnung hatten, dass sich dann am Interesse etwas ändern wird.
Mich stimmte diese kleine Bankrotterklärung doch eher traurig. In der DDR war Pflichtbestandteil der juristischen Ausbildung, dass über zwei Semester hinweg Rechtsgeschichte gelehrt wurde. Entgegen der Annahme mancher Zeitgenossen beschränkte sie sich keineswegs nur auf die Entwicklung nach der Oktoberrevolution und in der DDR. Über weite Strecken hinweg mussten wir Studenten uns vom Römischen Recht über die Gesetzestafeln des Hammurapi bis ins Mittelalter durchkämpfen. Das war freilich nicht immer nur spannend, aber jeder von uns verstand danach besser die Entstehung von Recht und seine unterschiedliche Handhabung in den zurückliegenden 2000 Jahren. Ich vermag nicht zu erkennen, weshalb der künftigen Juristengeneration diese Erkenntnisse vorenthalten werden sollten. Klausuren gehörten damals übrigens auch zum Fach Rechtsgeschichte.
In Thüringen begegnet man dem beschriebenen Phänomen seit etwa zehn Jahren dadurch, dass zumindest während der Referendarausbildung, die dem Hochschulstudium folgt, eine Veranstaltung zum Leben und Wirken von Fritz Bauer, dem hessischen Generalstaatsanwalt, der den Auschwitz-Prozess einst auf den Weg brachte, durchgeführt wird. Die Teilnahme ist auch dort leider eher mäßig, wie auch der große Saal im Reichsgerichtsgebäude nur mit etwa 35 Personen gefüllt war, darunter nur wenige im Studentenalter. An der Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze lag es jedenfalls nicht. Lehren aus der Geschichte stehen offenbar nicht hoch im Kurs …