Wenige Tage vor dem aktuellen Lockdown ist es voll auf dem Plateia Viktorias (Viktoriaplatz) in Athen. Der Weg aus der gleichnamigen Metro-Station führt mitten in den Trubel des geschäftigen Viertels: Spielende Kinder sausen um die freistehenden Kioske, unzählige Grüppchen Erwachsener und Jugendlicher sammeln sich am Rande der quadratisch angeordneten Maulbeerbäume. Es wird diskutiert, gelacht und gestritten, während sich in den umliegenden Cafés und Restaurants vereinzelt Gäste bedienen lassen. Gesprochen wird Arabisch, Griechisch, Persisch und Englisch. Spätestens seit 2015 gilt der Viktoriaplatz, nur zwei U-Bahn-Stationen vom touristischen Zentrum entfernt, als Treffpunkt für Migrant*innen, Solidarisierende und Schlepper. Von dort aus wollen die meisten Geflüchteten nur eins: den Aufbruch in Richtung Norden.
Seit dem EU-Türkei-Abkommen und der Schließung der Balkanroute im März 2016 ist die Weiterreise jedoch nahezu unmöglich geworden. Auch die Stimmung im Stadtteil hat sich mit der Festsetzungspolitik der EU radikal geändert: Heute kampieren dutzende obdachlose Migrant*innen auf dem Viktoriaplatz unter freiem Himmel. Sporadischen Schutz bieten den Familien ein paar Decken und Schlafsäcke. Zuletzt ließ die Athener Stadtverwaltung alle Bänke vom Platz entfernen. Als Sitzmöglichkeiten dienen seitdem nur noch wenige Holzpaletten, die in einer spontanen Solidaritäts-Aktion zusammengeschraubt und bemalt wurden. Essen, warten, schlafen, waschen – alles unter den neugierigen Augen vorbeiziehender Passant*innen. »Das hier ist kein Film, wir sind keine Schauspieler. Also seid ihr keine Zuschauer, denn eure Blicke stören uns!«, schreibt die 17-jährige Parwana Amiri auf ihrem Blog Refugee Voices. Sie selbst lebt mit ihrer Familie seit Monaten im Flüchtlingslager Ritsona und weiß um die mediale Zurschaustellung migrantischen Leids.
»Die meisten der Familien auf dem Platz sind in Griechenland offiziell als Flüchtlinge anerkannt. Sie kommen von den Inseln. In den Flüchtlingslagern rund um Athen gibt es keinen Platz mehr für sie«, erklärt Fadel, Mitte 30, der aus Aleppo stammt und selbst vor ein paar Wochen in Athen ankam. Er habe »Glück gehabt«, weil eine befreundete Aktivistin aus England ihr Sofa für ihn räumte. Allerdings nur auf Zeit: Bald müsse auch er sich nach einer anderen Bleibe umsehen. In Griechenland registrieren lassen wolle er sich aber auf keinen Fall, denn, wie jeder wisse, existiere die Asylanerkennung hier nur auf dem Papier: »Ich möchte arbeiten und Geld verdienen. Hier sehe ich ja, was mich erwartet. Keine Chance.«
Durch die Finanzkrise und die Spardiktate der Troika sind Armut und Wohnungslosigkeit unter Griech*innen bereits 2011 dramatisch gestiegen. Um das Problem der Obdachlosigkeit anzugehen, fehlt es jedoch nicht nur an politischer Initiative, sondern auch an aktuellen Studien und verlässlichen Zahlen. Vereinzelte Umfragen liefern nur ungefähre Aussagen über Alter, Geschlecht und Beruf wohnungsloser Menschen. Lediglich das National Center for Social Solidarity (EKKA) hat im März 2019 eine Studie zur Wohnsituation unbegleiteter, minderjähriger Geflüchteter veröffentlicht: Von 3.774 registrierten Kindern und Jugendlichen lebten mindestens 605 auf der Straße.
Seit dem Wahlsieg der rechtskonservativen Nea Dimokratia im Juli 2019 haben sich Wohn- und Lebenssituation für Migrant*innen in Athen zusätzlich verschlechtert. Systematisch räumt die Polizei autonom besetzte Häuser, die Migrant*innen, Anarchist*innen und linke Aktivist*innen seit 2015 als gemeinsame Wohnräume nutzen. Von ehemals dutzenden Hausbesetzungen im Athener Stadtteil Exarchia existiert heute nur noch eine, Notara 26, die durch Migrant*innen und Solidarisierende am Leben gehalten wird. Allerdings sei die Räumung nur eine Frage der Zeit, erklärt Sayed, der selbst in einem der Kollektive tätig war. Er ist als Kind mit seinen Eltern aus Afghanistan geflohen und lebt mittlerweile seit rund 20 Jahren in der griechischen Hauptstadt. »Die Regierenden warten nur auf den richtigen Moment. Sobald ihnen die Geschichte politisch nützt, wird auch das letzte Haus zwangsgeräumt.«
Die Zerstörung der Wohnräume drängt Migrant*innen ins Lager oder auf die Straße. Die Polizei transportiert obdachlose Geflüchtete zwar regelmäßig in die überfüllten Flüchtlingslager des Athener Umlands – Eleonas, Skaramagas, Elefsina –, den meisten steht die Unterbringung und Verpflegung dort jedoch nicht mehr zu. Denn trotz horrender Finanzspritzen, mit denen sich die EU von der eigenen Verantwortung freizukaufen versucht (in Form einer Emergency Assistance wurden Griechenland durch die Europäische Kommission seit 2015 rund 816,4 Millionen Euro zugebilligt), setzt die Nea Dimokratia auf finanzielle Kürzungen: Seit einer Gesetzesänderung vom März 2020 endet der Anspruch auf Unterbringung und Versorgung durch das EU-geförderte Programm ESTIA nur 30 Tage nach Ausstellung eines positiven Asylbescheids – zuvor waren es erst sechs, dann drei Monate. Das Anschlussprogramm HELIOS ermöglicht zwar eine Bezuschussung der Mietkosten, in der Praxis ist die Beantragung allerdings nur für die wenigsten möglich: Um finanzielle Mittel zu erhalten, müssen ein Bankkonto und ein griechischer Mietvertrag vorliegen – ungeachtet des massiven Rassismus auf dem Wohnungsmarkt. In Griechenland kann aber weder ein Bankkonto eröffnet noch ein Mietvertrag unterzeichnet werden, solange keine Steuernummer vorliegt. Eine Steuernummer wiederum wird nur bei festem Wohnsitz erteilt, nicht jedoch an Obdachlose. Solche bürokratischen Hindernisse führen dazu, dass im Juli 2020 von 13.251 Leistungsberechtigten weniger als ein Drittel – gerade mal 3.623 Personen – einen Mietzuschuss erhielten.
Auch Wohlfahrtsverbände warnen: Rund 11.000 Migrant*innen sind akut von Obdachlosigkeit bedroht, wenn sie im Zuge der erwähnten Gesetzesänderung aus den Lagern und Unterkünften geworfen werden. Gleichzeitig verlegte die griechische Regierung rund 3.000 Geflüchtete auf das Festland, nachdem das Elendslager Moria auf Lesbos im September 2020 in Flammen aufging. »Für mich ist das nur eine Verlagerung des Problems: Hier auf den Inseln leben die Leute isoliert im Lager, in Athen auf der Straße«, kommentiert Marlena, Aktivistin aus Deutschland, die sich auf Samos engagiert. »Wir sehen, dass jetzt wieder mehr Menschen von den Inseln auf das Festland kommen – ohne Perspektive auf Wohnraum, finanzielle Mittel oder Arbeit«, erzählt Arash, der 2015 aus dem Iran nach Griechenland kam und selbst unter den Missständen im Lager und auf der Straße leben musste. In Athen ist er Mitbegründer der Initiative Our House, in der sich Migrant*innen organisieren und obdachlosen Menschen warme Mahlzeiten zur Verfügung stellen. Sie betreiben das Café Patogh, wo Beratungen und Sprachkurse angeboten werden. Außerdem mieten sie Wohnungen, um besonders gefährdeten Personen – Schwangeren, Kindern, älteren oder kranken Menschen – zumindest temporär eine Bleibe zu bieten.
Solche selbstorganisierten Wohnprojekte sind für viele die einzige Hoffnung. Zum Beispiel Mazi, eine Initiative, die von einer Gruppe englischer und griechischer Aktivist*innen ins Leben gerufen wurde. »Wir organisieren Wohnraum speziell für allein reisende, junge Männer, weil diese oft von allen Hilfsprogrammen ausgeschlossen sind«, erklärt Cosmo, der für die Gruppe aktiv ist. In den zwei Häusern, die ihnen aktuell zur Verfügung stehen, leben die Männer bis zu zwölf Monate. Auch Sayed, der seit Jahren gegen die Entrechtung von Migrant*innen kämpft, engagiert sich mittlerweile in einem Wohnprojekt: »Die Situation ist schlimm, richtig schlimm«, bestätigt er. Gerade deshalb dürfe die Zivilgesellschaft jetzt nicht resignieren. »Die Zeit der Hausbesetzungen ist vorbei. Wir müssen längerfristige Strategien praktischer Solidarität finden.«
Die Initiativen Our House und Mazi erhalten keine staatlichen Fördermittel und finanzieren ihre Projekte über solidarische Netzwerke und Privatpersonen. Sie freuen sich über jede Unterstützung.
Our House: Reza Hampay, IBAN: LT39 3250 0793 0517 1194, BIC: REVOLT21
Mazi: AKE Rose-Dewey Mazi Housing Project, IBAN: GB15 BUKB 2041 5013 2106 42