Eher geht das sprichwörtliche Kamel durch ein Nadelöhr, als dass die Justiz zugeben würde, dass ihr Verhalten oft schwer nachzuvollziehen ist. Nach dem Freispruch für die Nazi-Mörder in der Robe und vielen milden Urteilen gegen Beteiligte an KZ-Verbrechen soll jetzt eine 95 Jahre alte ehemalige KZ-Sekretärin vor Gericht gestellt werden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zum Mord in mehr als 10 000 Fällen vor. Stattfinden soll der Prozess wegen ihrer damaligen Jugendlichkeit vor einer Jugendstrafkammer.
Mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, mit welcher Begründung der Bundesgerichtshof als letzte Instanz im Auschwitz-Prozess sich vor Leute gestellt hat, die wegen ihrer Mitverantwortung am Massenmord zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Nicht jeder, so argumentierte er damals, der in das Vernichtungsprogramm eingegliedert gewesen und dort »irgendwie anlässlich dieses Programms tätig« geworden sei, sei objektiv an den Morden beteiligt gewesen »und für alles Geschehene verantwortlich«. Mit dieser Begründung bestätigte er den Freispruch eines der Angeklagten.
Vergeblich hatte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Initiator des Auschwitz-Prozesses versucht, diese Denkweise zu überwinden. Nicht weil ihm daran lag, möglichst viele Schuldige hinter Gitter zu bringen, sondern weil er dem deutschen Volk vor Augen führen wollte, wohin blinder Gehorsam und Mitläufertum führen. Er verlangte am Schluss der Beweisaufnahme vom Gericht, es möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine »natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen, als psychische Mittäterschaft« qualifiziere.
Die Vertreter der Anklage kamen damit im Prozess nicht durch. Abertausende Naziverbrechen blieben in der Folgezeit ungesühnt. Den Rest besorgte ein ehemaliger Nazirichter als hochrangiger Mitarbeiter im Bundesjustizministerium mit einer im Ordnungswidrigkeitengesetz (!) von 1968 versteckten Verjährungsregelung, der die Abgeordneten des Bundestages, zu ihrer Schande sei es gesagt, ihren Segen gaben. Vier Jahrzehnte später dämmerte es einer nachgewachsenen Juristengeneration, dass da etwas zu bereinigen war. So kam es im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung zu dem Prozess gegen den ehemaligen KZ-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, Demjanjuk, der 2011 ohne den Nachweis einer konkreten Tötungshandlung wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28 000 Fällen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Ähnlich erging es dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz, Gröning, der dort als 18jähriger SS-Angehöriger die Vermögenswerte der ermordeten Opfer registriert hat. Er wurde wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren verurteilt.
Nun soll sich nach dem Willen der Staatsanwaltschaft also eine 96 Jahre alte ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof vor Gericht verantworten. Der Frau wird vorgeworfen, die Tötungsmaschinerie der Nazis unterstützt zu haben. Ihr Arbeitsplatz in der Kommandantur lag direkt am Haupteingang. Trotzdem will sie von den Mordtaten im Lager erst nach dem Krieg erfahren haben.
Die Staatsanwaltschaft argumentiert, wie Fritz Bauer argumentiert hat. Er sagte: »Wer an dieser Mordmaschine hantierte, wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat.« Ob sich das Landgericht Itzehoe dieser Meinung anschließt, bleibt abzuwarten. Es muss nun prüfen, ob es die Anklage zulässt. Eine Zeitung führte das Verfahren gegen die KZ-Sekretärin auf eine neue Rechtsauffassung zurück. Diesen Gedanken hat der Bundesgerichtshof jedoch bei der Bestätigung des Urteils gegen Gröning weit von sich gewiesen. Die darin niedergelegte Rechtsaufassung stehe »nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofes«, heißt es in dem entsprechenden Beschluss vom 20. November 2016.
Bei dem Verfahren in Itzehoe geht es nicht in erster Linie darum, Schuld zu sühnen und den Hinterbliebenen Genugtuung zu verschaffen, sondern um die Erinnerung an ein Geschehen, an dessen Beginn Hass und Hetze standen und das mit der fabrikmäßigen Ermordung von Menschen endete. Das Wissen darum darf nie verblassen; es immunisiert gegen die Naziparolen von heute.