Kein führender Politiker, keine Politikerin des Westens kann es sich erlauben, nicht nach Kiew zu pilgern – eine heuchlerische Symbolpolitik. Denn sie hätten sich nicht erlauben können, nach Bagdad oder Tripolis oder Gaza zu fahren, als dort die Bomben fielen. PolitikerInnen, die keine schweren Waffen liefern wollen, vor einer drohenden Eskalation warnen oder gar einen Verhandlungsfrieden anmahnen, werden an den Pranger gestellt: Schwächling, Lumpenpazifist! Die Grundlagen der Entspannungspolitik von Egon Bahr und Willy Brandt, also die gegenseitige Anerkennung von Sicherheitsinteressen und die Überwindung der Konfrontation werden in einer historischen Lüge zu Ursachen der Weltmachtambitionen Russlands uminterpretiert.
In Nachrichten und Kommentaren wird der Bevölkerung eingehämmert: Russland muss geschwächt und auf dem Schlachtfeld besiegt werden, und sei es in einem jahrelangen Krieg. Aus der taz, früher eine kritische Zeitung, schreit es: Die Ukraine muss den Krieg gewinnen! Erst die militärische Niederlage Russlands eröffnet den Weg zu Frieden für Europa! Statt Analysen und Friedenskonzepten werden Bekenntnissen und gesinnungsethische Verdammung geliefert. Es herrscht ein bellizistischer Überbietungswettbewerb. Deutschland ist Kriegspartei und jede Schwächung unserer Kampfmoral grenzt an Hochverrat.
Wer darf da noch an den US-Anspruch erinnern, die einzige Weltmacht zu sein und diese Position mit allen Mitteln von Lüge, Krieg und Hunderttausenden Toten zu verteidigen? Verdrängt wird die systematische Einkreisung und Bedrohung Russlands durch die Nato und durch unzählige Manöver an seinen Grenzen. Kein Gedanke an den Maidan-Putsch, das faschistische Massaker in Odessa, die 14 Tausend Tote im Osten des Landes oder die antidemokratische Repression im Land. »Wir leben in einer Zeitenwende«, spricht der grüne Ministerpräsident Kretschmann im Schatten der Panzerhaubitze 2000. Wir sind »in einer neuen Zeit aufgewacht« – hat er die Kriege des Westens verschlafen?
Das Konzept des imperialistischen Vordenkers Brzeziński zur Ausweitung globaler US-Herrschaft auch über Eurasien hat gesiegt. Putin hat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg begonnen. Aus seiner Sicht musste er nach mehreren vergeblichen Angeboten für ein System gemeinsamer Sicherheit, der Bedrohung durch die Nato und dem gezielten Ausbau der Ukraine zu einem Bollwerk des Westens gegen Russland die Notbremse ziehen. So falsch kann das nicht sein: Die Studie des regierungs- und militärnahen US-Thinktanks »Rand Corporation« von 2019 (Übersetzung im Netz bei Anti Spiegel) liest sich wie das Drehbuch zur Schwächung und Zerstörung Russlands.
»Mission accomplished?« Russland ist im Unrecht, der Westen triumphiert. Abrüstung? Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten! Und es ist der (Schein-)Beweis erbracht, wer der Gute ist, Kriegsverbrechen und -verbrecher gibt es nur beim Feind (das wissen wir seit Clinton, Bush, Obama, Trump und Biden). Aber woher kommt die Kriegsbegeisterung der Grünen und Teilen der bürgerlichen Mitte, die bei den Kriegen des Westens, den tödlichen Fluchtversuchen der unter Krieg und Armut Leidenden nie auf die Idee gekommen wären, nach dem Internationalen Strafgerichtshof für die politisch Verantwortlichen zu rufen, Boykottmaßnahmen gegen die Oligarchen des Westens zu fordern, den Künstlern und Sportlern Bekenntnisse gegen die Kriegsherren abzuverlangen? Hatten sie die Lieferung schwerer Waffen für Kurden oder Palästinenser gefordert, den Sieg Iraks verlangt, als dort die US-Außenministerin eine halbe Million Kinder dem Boykott zu opfern bereit war?
Der hysterische Bellizismus verhindert jedes Nachdenken über Hintergründe und Zusammenhänge des russischen Angriffs. Narrative vom Kampf für Freiheit und Demokratie dominieren. Man teilt selbstgerechte moralische Verdikte aus. Baerbock, Hofreiter und Co. lassen sich von einer Überidentifikation mit der westlichen Wertegemeinschaft leiten, denn sie können unmöglich das System ablehnen, von dem sie profitieren und dessen wichtigste Machstütze sie sind. Sie halten die »kognitive Dissonanz« zwischen den Narrativen von Freiheit und Demokratie und der Realität nicht aus. Endlich gibt es das offensichtliche Unrecht des russischen Angriffskrieges, den sie mit aller Vehemenz moralisch verurteilen können. Diese einseitige, irrationale Parteinahme und das unterkomplexe Gut/Böse-Schema führen aber nicht nur zu einem undifferenzierten Denken; das schlechte Gewissen, von den Ungerechtigkeiten und Verbrechen des Westens zu schweigen oder sogar zu profitieren, drängt nach einer moralischen Empörung und dem Bedürfnis nach Strafe und Rache. Der Sieg über den Feind mutiert zum Sieg über die Heuchelei.
An den Machthebeln hat man derweil mit Hilfe meinungsbildender Medien von Angst- auf Hassmodus umgeschaltet und Teile der Realität (Kriege, Rassismus, NSA-Überwachung, Herrschaft der Konzerne …) schlicht ausgeblendet. Es geht nicht um Kritik (oder gar Selbstkritik) an undemokratischen, autoritären Systemen; es geht um Feindbilder. (Lesenswert dazu im Netz: »Wenn die ›guten Jungs‹ zensieren« von Alfred de Zayas, US-Völkerrechtler und ehemaliger UN-Beamter.) Dafür muss Stimmung erzeugt werden bis hin zum kalkulierten Weltkrieg. Die Ukraine als Figur auf dem Schachbrett der einzigen Supermacht überlässt man lieber der Zerstörung, statt Verhandlungen und gegenseitige Sicherheitsgarantien zu fordern. Eine Verständigung erscheint in dieser hoch emotionalen Stimmung nicht mehr möglich, verlangt wird nach Sieg, Kapitulation und Strafe.
Möglicherweise wird der überwältigende Siegeszug gegen den Aggressor zum Pyrrhussieg. Denn die neue Weltordnung ist voller Widersprüche und Spaltungen. Nicht die ganze Welt denkt so wie der »freie Westen«, zumal zahlreiche Länder zu den Opfern genau dieser »Freiheit« gehören. Und es gibt auch in Deutschland und in der EU zahlreiche Initiativen gegen den Krieg und die Waffenlieferungen, für differenzierte Analysen, für Verhandlungsfrieden, Abrüstung und ein neues System umfassender Sicherheit. Die russischen »Vertragsentwürfe für USA und Nato« vom Dezember 2021 könnten dafür immer noch als Grundlage dienen.