»Die Grünen-Spitze holt sich auf dem Bundesparteitag in Bonn die Zustimmung für Waffenlieferungen an die Ukraine. Die vereinzelten Gegenstimmen sind nur noch eine Minderheitenposition in einer Partei, die von einer neuen Generation getragen wird«, schreibt Sebastian Hold für NTV. Die Grünen seien jetzt eine »Kriegspartei für den Frieden«. Wenn eine aus der Friedens- und Umweltbewegung der 1980er Jahre entstandene Partei zu einer kriegsbefürwortenden Partei mutiert, so erinnert das unweigerlich an George Orwells Neusprech aus seinem dystopischen Roman »1984«, der seit geraumer Zeit in mehrfacher Hinsicht eine erschreckend-beängstigende Aktualität erfährt. 20 Jahre nach Gründung der Partei gab es für die Grünen mit ihrer kriegsbefürwortenden Haltung zum Krieg im Kosovo eine ungemein schwierigere Zerreißprobe, die fast zu ihrer Spaltung geführt hätte.
Ein Rückblick lohnt sich: Am 24. März 1999 fand mit der Beteiligung der Bundeswehr am Krieg im ehemaligen Jugoslawien eine Zäsur in der Außen- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik statt. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nahmen deutsche Soldaten aktiv kämpfend an einem Krieg teil. Die Weichen dafür wurden am 12. Oktober 1998 im Deutschen Bundestag gestellt, als 500 Abgeordnete der Beteiligung der Bundeswehr am Nato-Luftkrieg gegen Jugoslawien zustimmten, während 62 Abgeordnete das ablehnten und 18 sich enthielten. Zwei Jahre danach wurden alle Abgeordneten schriftlich zu ihrem Abstimmungsverhalten befragt und um Beantwortung folgender Fragen gebeten: »1. Wie haben Sie sich damals entschieden und von welchen Erwägungen haben Sie diese Entscheidung abhängig gemacht? 2. Wie bewerten Sie zurückblickend Ihre Entscheidung bzw. würden Sie sich auch im Nachhinein so entscheiden? 3. Sind Sie der Auffassung, dass der Themenkomplex – gemessen an seiner Bedeutung – in der Öffentlichkeit ausreichend thematisiert worden ist bzw. welche Rolle spielt er in Ihrer aktuellen politischen Arbeit?«
130 Abgeordnete nahmen an der Befragung teil und begründeten teilweise sehr persönlich und ausführlich ihre diesbezügliche Haltung, einige von ihnen meldeten sich telefonisch, woraus längere Telefonate entstanden und deutlich wurde, dass die Befragung in gewisser Weise den Nerv vieler Abgeordneter getroffen zu haben schien. Die Befürworter begründeten ihre Haltung mit dem notwendigen bündnispolitischen Engagement der Bundesrepublik als Mitgliedsstaat der Nato und mit der aus ihrer Sicht fehlenden Alternative zum militärischen Einsatz. Die Gegner begründeten ihre Haltung mit den fehlenden völkerrechtlichen Voraussetzungen des Krieges und mit einer pazifistischen Haltung, wonach jegliche Beteiligung an einem Krieg strikt abzulehnen sei. Daraus ist eine schriftliche Dokumentation entstanden, die in der Kurzfassung hier: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/ich-habe-an-der-seinerzeitigen-beschlussfassung und in der Langfassung hier abgerufen werden kann: https://www.antimilitarismus-information.de/extra/kosovo/mdbs.htm.
Die bedeutendste Antwort kam von Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, dem damals amtierenden Bundesjustizminister: »1. Ich habe an der seinerzeitigen Beschlussfassung im Bundestag extra nicht teilgenommen (und dafür auch die betreffende Ordnungsgeldzahlung gern in Kauf genommen). Ich war seinerzeit noch der amtierende Bundesjustizminister und hatte mich bei dem vorangegangenen Kabinettsbeschluss, der die Parlamentsvorlage lieferte, ausdrücklich gegen die in Rede stehende Einsatzentscheidung ausgesprochen. Eine entsprechende Protokollerklärung von mir liegt in den Kabinettsakten. Da ich mich außerhalb des Kabinetts nicht gegen die Regierungsentscheidung stellen wollte (und durfte: § 28 II GeschOBRreg), aber auch von meiner Meinung nicht abweichen wollte, kam nur eine Nichtteilnahme in Betracht. Maßgeblich war in der Sache für mich vor allem das Fehlen eines entsprechenden Sicherheitsrats-Beschlusses. Denn abgesehen von der schlichten rechtlichen Notwendigkeit einer solchen Voraussetzung schien (und scheint) mir nur durch einen solchen Beschluss die Gefahr vermieden, dass einzelne Staats- oder Bündnisinteressen den Ausschlag geben. Immerhin hatte man in ganz ähnlichen Fällen mit vergleichbaren humanitären Katastrophen eben von einer militärischen Intervention abgesehen, offenbar weil bestimmte Machtinteressen nicht so eindeutig dafür stritten. Schließlich schien mir auch die militärische, strategische Richtigkeit des Waffeneinsatzes nicht einleuchtend, weil durch die Luftoperationen voraussehbar die zu schützende Bevölkerung selber in Mitleidenschaft gezogen würde. 2. Nach wie vor halte ich meine Entscheidung von damals für richtig und glaube auch, dass es heute zu einer entsprechenden Initiative der Nato-Staaten nicht mehr kommen würde.«
Im Stenographischen Bericht der Bundestagssitzung vom 16. Oktober 1998 findet sich kein einziges Wort darüber, dass der amtierende Bundesjustizminister den Krieg im Kosovo als völkerrechtswidrig bewertet hat, was schon seit vielen Jahren der herrschenden Völkerrechtsmeinung entspricht. Doch zu welchem Abstimmungsergebnis wäre es wohl gekommen, wenn die Haltung von Schmidt-Jortzig den Abgeordneten nicht bewusst vorenthalten worden wäre? Vermutlich hätte es keine Mehrheit für eine Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg gegeben! Inzwischen sind wieder 20 Jahre vergangen, und Deutschland beteiligt sich an dem Krieg in der Ukraine mit Waffenlieferungen, finanziellen Mitteln und der Ausbildung ukrainischer Soldaten. Und schon wieder wird alles dafür getan, dass das Wort Kriegsbeteiligung unausgesprochen bleibt, so als hätte es die Lehren aus dem Kosovo-Krieg nie gegeben. Gregor Gysi antwortete damals: »Die Vorstellung, mittels Krieges Menschenrechte durchsetzen zu können, schien mir in jeder Hinsicht völlig absurd.« Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen, oder doch? »Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden« (Bertolt Brecht).