So lautet bekanntlich der Titel von mehreren Filmen, einer Fernsehserie und, ach ja, eines berühmten Buches, das auch weiterhin zur Weltliteratur zählt, obwohl es von einem Russen(!) geschrieben wurde. Wie jede »gute Literatur« hat der Roman die Zeiten überdauert und ist auch heute noch, trotz seines rund 200 Jahre alten Ambientes, von erschreckender Aktualität. Es geht darin um Russlands Kampf mit Westeuropa (sic!) und seinen unvorhersehbaren Verlauf. Der Epochenroman von Leo Tolstoi zeigt am Beispiel der Napoleonischen Kriege (1812 bis 1815) ein sich vielfältig überlagerndes, schwer durchschaubares historisches, politisches und psychologisches Bedingungsgefüge, das ein halbwegs friedliches Mit- oder Nebeneinander in ein gewaltsames Gegeneinander umschlagen lässt.
So jüngst auch in der Ukraine, ein ehemaliges »Bruderland«, das heute – nicht nur – aus russischer Sicht für »den Westen« steht. Die Lage dort, der Krieg, ist so unüberschaubar, dass es eines Tolstois bedürfte, um ansatzweise einen Durchblick zu gewinnen. Warum hat sich das westliche »Verteidigungsbündnis« immer weiter nach Osten ausgedehnt? Wie sollte das von Russland anders verstanden werden, denn als Bedrohung seiner Sicherheit? Warum hat sich die russische Führung entschieden, daraufhin nicht nur die Westgrenze zu stärken, sondern gleich das ganze Nachbarland anzugreifen und mit Bomben und Raketen auf Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Theater und Bahnhöfe zu zielen?
Die Lektüre von »Krieg und Frieden« hilft selbstverständlich wenig, um diese konkreten Fragen zu beantworten. Sie kann aber die Aufmerksamkeit schärfen, um das komplexe, von beiderseitiger Propaganda verdunkelte Geschehen besser auszuleuchten. »Du lieber Himmel!«, hören ich die eine oder den anderen schon aufstöhnen: »über 1.500 Seiten? So genau wollen wir es ja gar nicht wissen.« Aber eben das ist Teil des Problems. Denn auch diejenigen, die Journalistinnen und Journalisten, deren Beruf es eigentlich ist, dass sie erst sich und dann ihre Leser wissend machen, wollen es offenbar ebenfalls nicht so genau wissen. Für den Verkauf ihrer »Nachrichtenware« ist Erregung zuträglicher als Erkenntnis. Also liefern sie uns in einer Art Liveberichterstattung Tag für Tag ungeprüfte Bilder und Nachrichten ins Haus, die uns tatsächlich die Fassung rauben. Aber wohin mit der Empörung? Der kürzeste Weg, das wusste Leo Tolstoi und lässt sich von ihm lernen, führt auf das Schlachtfeld. Am Ende auch uns.
Wenn sich an der Politik nichts ändert – und momentan sieht es ganz gewiss nicht danach aus –, wenn stattdessen überall nun wieder die militärische Option zur Ultima Ratio erklärt und das etwa gegenüber Russland ohnehin schon deutlich überlegene westliche Militärbündnis massiv aufgerüstet wird, kann es auf absehbare Zeit keinen Frieden in Europa geben. Das ist eine Katastrophe mit globalen Auswirkungen. »Wir«, die hochrüstenden Länder, zerstören, was vorgeblich »geschützt« werden soll. Das alles dient weder der Freiheit noch dem Wohlstand noch den so gern bemühten Menschenrechten. Gewalt, Hunger, Armut, soziale Ungleichheit und Umweltzerstörungen werden zunehmen, und am Ende wird es nur Verlierer geben; selbst die jetzigen Profiteure des neuen Rüstungswahnsinns – etwa die Waffen- und Energieproduzenten – sägen ja in Wahrheit an dem Ast, auf dem sie sitzen.
Altkanzler Kohl sagte einmal: »Entscheidend ist, was hinten rauskommt.« Richtig daran ist, dass man die Dinge immer auch vom Ende her bedenken muss. Aber macht sich irgendwer an den »Schaltstellen der Macht« Gedanken darüber, wohin die gegenwärtige Entwicklung führt, wo sie enden soll? Die nun in Gang gesetzte Dynamik kann doch nur in allgemeiner Verwüstung münden: sozial, wirtschaftlich, ökologisch. Darauf hinzuweisen, darf auch diese Zeitschrift nicht müde werden – auch wenn dies manchmal sozusagen kontraintuitiv anmutet, weil man doch gegen ein konkretes, akutes Unrecht »irgendwas« tun müsse.
Ja, das ist richtig. Aber dieses »Irgendwas« dürfen keine Waffen sein, auch nicht mehr und mehr Waffen für die Ukraine oder die rechtsextremen ukrainischen Milizen. Waffen sind keine Lösung, sondern verschärfen das Problem. Hoffnungsvoll unterstellt, dass niemand (auf beiden Seiten) ernsthaft erwägt, die Gegenseite komplett zu vernichten, gibt es doch gar keine andere Möglichkeit, als zu verhandeln. Worauf warten? In solche Verhandlungen bringt man zunächst selbstverständlich seine Maximalforderungen ein, beginnt sie aber doch nur, wenn man bereit ist, davon abzuweichen. Andernfalls hätten Gespräche überhaupt keinen Sinn. Ein solches Aufeinander-Zugehen ist bislang leider nicht zu erkennen. Die potenziellen Verhandlungsführer scheinen gegenwärtig nur bemüht, mit immer mehr militärischem Druck ihre Verhandlungsposition zu verbessern. Selenskij erhöht zudem den öffentlichen Druck, indem er auf den Parlamentsbühnen der westlichen Welt mit Standing Ovations gefeiert wird und sogar bei der Grammy-Verleihung den Heldenmut der ukrainischen Soldaten rühmen darf. Ukrolywood! Yeah! Wir dürfen weder Putin noch Selenskij, weder den russischen noch den ukrainischen Behauptungen auf den Leim gehen.
Ja, eine der Hauptursachen der in der Ukraine eskalierenden Gewalt ist eine seit vielen Jahren den »Nicht-Westen« provozierende westliche Politik. Verträge wurden gekündigt, Absprachen gebrochen, Verhandlungen verweigert. Aber den »Westen« dafür – zurecht – anzuklagen, ohne von den russischen Gräueltaten zu sprechen, erscheint mir so wenig angemessen wie die Putin-Verteufelung vieler Mainstream-Medien. Tatsächlich wissen wir zurzeit nicht, was wo wie wirklich geschah und jetzt gerade passiert. Wir können nicht überprüfen, wer wofür verantwortlich ist. Wir sind schon oft genug von der einen wie von der anderen Seite propagandistisch in die Irre geführt worden. Ich halte es deshalb für journalistisch höchst fragwürdig, wenn nicht gar fahrlässig, was viele Kolleginnen und Kollegen in den anderen Medien so treiben. Auch die räumen inzwischen zwar vermehrt ein – immerhin –, all die Meldungen, Bilder, Nachrichten nicht überprüfen zu können. Das hindert sie aber nicht daran, klare Urteile zu fällen, Gut und Böse, Freund und Feind fein säuberlich zu trennen. Und es passt ja auch so schön, damit ist zugleich die Ursache aller möglichen Probleme ausfindig gemacht. Steigende Energiekosten und Spritpreise, Inflation, Lieferengpässe, Firmenpleiten, das Nichteinhalten von Klimazielen, absehbare Hungerkrisen: Das alles und noch viel mehr hat dieser »Bösewicht« im Kreml nun zu verantworten.
Solcher Kriegstreiberei, die in Wahrheit schon einer Kriegsteilnahme gleichkommt, müssen wir entgegentreten, ohne deshalb aufzuhören, den Krieg zu geißeln und seine Betreiber beim Namen zu nennen. Das fällt, eingestandenermaßen, zunehmend schwer. Fakt scheint zu sein, dass die Russen in die Ukraine völkerrechtswidrig einmarschiert sind und dort mit menschenverachtender Brutalität vorgehen. Dafür trägt der Westen, worauf in den jüngsten Ossietzky-Heften mehrfach hingewiesen wurde, eine gehörige Portion Verantwortung. Ihm, dem Westen, aber deshalb das konkrete aktuelle Geschehen in der Ukraine anzulasten, erscheint mir angesichts des millionenfachen Leids geradezu zynisch. Es wird auch den Opfern dieses Krieges (auf beiden Seiten) nicht gerecht, denen im Übrigen Ursachenforschung und wechselseitige Schuldzuweisungen in ihrer akuten Situation herzlich gleichgültig sein dürften.
Dennoch ist und bleibt das Letztgenannte, die Aufklärung, unsere vornehmste Aufgabe, der wir, bei allem gelegentlichen Unbehagen an der scheinbaren Passivität dieses Wirkens, weiterhin nachkommen müssen – auch und gerade zu Ostern. Als Widerstand gegen jeden Krieg. Für den Frieden auf die Straße zu gehen, ist, vom Ende her gedacht, allemal wirkungsvoller, als Hass, Gewalt und Gegengewalt mit Waffen zu füttern. Im Krieg, das ist auch die Grundbotschaft von Leo Tolstoi, verlieren Zivilisation, Vernunft, Humanität ihre Gültigkeit. Dass russische wie auch ukrainische Soldaten, die sich jeweils auf der »richtigen« Seite wähnen, in rasende Wut, in jähen Zorn geraten, wenn neben ihnen Freunde und »Kameraden« getötet werden, wird jeder nachvollziehen können, der oder die selbst schon mal Gewalt erlitten oder miterlebt hat. Solche Gewaltzustände gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Überall. Zwar mag es angesichts allseits keimender Rüstungsblüten naiv erscheinen, die Friedensfahne zu schwenken. Das ist es aber keineswegs, wie beispielsweise Putins Angst vor der Opposition im eigenen Land belegt. Er kann sie eine Weile unterdrücken, aufhalten wird er sie am Ende nicht. So wenig wie den Friedenswillen der Mehrheit.