Vor der Bevölkerung in Deutschland und Europa wird verschwiegen, dass dieser als »Putin-Krieg« gegen die Ukraine bezeichnete Konflikt eine neue Stufe der militärischen Auseinandersetzung kapitalistischer Großmächte um mehr Macht in Europa darstellt. Nutznießer, Provokateur und Auslöser des Krieges sind nicht identisch. Die »Kriegsberichtserstattung« der öffentlich-rechtlichen Medien ist undifferenziert und einseitig – das gilt für die russischen Medien nicht minder –, um nicht zu sagen politisch-ideologisch gleichgeschaltet: Putin ein »Kriegsverbrecher«, ein »Barbar«, dazu stigmatisierende Vergleiche mit Hitler. USA-Präsident Biden forderte am 26. März 2022 öffentlich, Putin müsse weg, worauf ein Fernsehkommentator meinte, Putin müsse mit einem Ende wie Gaddafi rechnen. Diese beispiellose Hetzkampagne erinnert mich an deutsche Radiosendungen vor 1945. Und dann schaudert es mich.
Doch mit Emotionen kann man geschichtliche Zusammenhänge für Kriege nicht erklären. Kriege haben ihre Vorgeschichte. Zur Vorgeschichte des russischen Überfalls auf die Ukraine gehören die Kriege der USA und Nato nach 1991 gegen Staaten, die wie Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien die Vorherrschaft der USA ablehnten. In diesen Kriegen wurden tausende Menschen getötet, Wohnviertel zerstört, die Staatsführer ermordet, Bodenschätze geraubt und ein Chaos hinterlassen. In keinem Fall wurden die USA als »Kriegsverbrecher« angeklagt oder gar verurteilt bzw. mit Sanktionen belegt. Diese Doppelmoral von Politikern und Medien in den Nato-Ländern muss selbständig denkenden Menschen doch auffallen und Fragen nach den Hintergründen für die hasserfüllten Ausfälle gegen Russlands Präsidenten Putin aufwerfen. Für eine sachgerechte Antwort muss man die Geschichte des 20. Jahrhunderts bemühen und die politischen Ziele der damals zum Kriege treibenden Großmächte ansehen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte die verheerende deutsche Kombination von Antikommunismus, Antibolschewismus und Antisemitismus zum 2. Weltkrieg. Mit der »Truman-Doktrin« und der 1948 auf der Lüge von »Stalins Marsch bis zum Rhein« beruhenden Gründung der Nato wurde Russlandfeindlichkeit als Antisowjetismus und Kalter Krieg zwischen Sozialismus und Kapitalismus fortgesetzt. Die vom ersten BRD-Bundeskanzler Adenauer übernommenen Beamten der Nazi-Ministerien und ihre Nachfolger fungierten als Konservatoren nationalistischen Denkens. Zur Bundestagswahl 1965 stellte die Neonazipartei NPD in 247 Wahlkreisen (von 248) eigene Kandidaten auf. Ein Jahr später hatte die NPD bereits 25 000 eingetragene Mitglieder.
Die deutsche Vereinigung 1990, die Auflösung von Sowjetunion und Warschauer Pakt 1991 waren eine einschneidende Wende im internationalen Kräfteverhältnis. Die Umfunktionierung der KSZE von 1975 in Instrumente von Nato bzw. EU und der militärische Überfall mit politischer Zerschlagung des Vielvölkerstaates Jugoslawien durch die Nato beendeten die europäische Friedensordnung der KSZE von 1975 (Friedliche Koexistenz). USA und Nato haben 1997 zuerst den Krieg nach Europa zurückgebracht. Ein europaweiter Rechtsruck stieß auf wenig Widerstand.
Neofaschistische Parteien und Organisationen in Europa hatten kaum ernsthafte Hindernisse mehr. Nicht nur in der BRD sind sie in öffentliche Institutionen eingezogen und in Parlamente gewählt worden. Das durch die abrupte Auflösung der UdSSR in den Sowjetrepubliken entstandene Machtvakuum nutzten nationalistische Kräfte für ihre Interessen. In der Ukraine erlebte im Kontext des Maidan-Aufstands 2013/2014 der Neofaschismus einen besonders makabren Höhepunkt. In der Hauptstadt Kiew wurde am 1. Januar 2020 eine lebensgroße Statue von Stepan Bandera eingeweiht, angeblich zu seinem 111. Geburtstag. Bandera war während der deutschen Besetzung von 1941 bis 1945 einer der blutigsten Anführer der Nazi-Kollaborateure in der Ukraine, die Juden und Kommunisten verraten und bei ihrer Ermordung mitgeholfen haben. Der gegenwärtige Botschafter der Ukraine in der BRD soll an diesem Denkmal Blumen niedergelegt haben. In der Westukraine wurden Straßen und Plätze nach solchen Kollaborateuren umbenannt. Eine Regierung, die solche Denkmale zulässt, ist nach innen und außen faschistischen Denkens und Handelns verdächtig.
Aus diesen veränderten internationalen Bedingungen entwickelte der Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski 1997 in seinem Buch »Die einzige Weltmacht« Amerikas Strategie der Vorherrschaft. In der Einleitung konstatiert er, nach dem Zusammenbruch der UdSSR seien die USA »zur ersten und einzigen Weltmacht« aufgestiegen. Für die USA gelte das Gebot, »keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte«.
Der eurasische Kontinent reicht von der Nord- und Ostsee bis zum chinesischen Meer und vom Nordpolarmeer bis zum Indischen Ozean. Auf diesem von Europa und Asien dominierten Kontinent haben die USA keine Landgrenze, wollen aber über alle Entwicklungen entscheiden, obwohl dort die Großmächte Russland (kapitalistisch), die VR China (sozialistisch) sowie Indien bestehen. Der Machtkampf der USA, Nato und EU gegen Russland und China ist in vollem Gange, gegen Russland – von Putin ausgelöst – in die militärische Phase übergegangen. In der EU soll Deutschland die Führungsrolle haben, in der Nato liegt sie bei den USA. Nach Vorstellung der USA soll Deutschland die europäischen Nato-Länder anführen, um Russlands Rolle als europäische Großmacht einzuschränken. Eine der übelsten Aufgaben, die Deutschland zugedacht ist. Die gegenwärtige deutsche Regierung hat mit zusätzlich 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr eine neue Aufrüstungswelle eingeleitet, die negative Folgen für die Lebensbedingungen vieler Völker haben wird. Der priesterliche Bundespräsident a. D. forderte die Bevölkerung auf, im nächsten Winter ohne russisches Öl und Gas »für die Freiheit zu frieren«.
Solche Absurditäten resultieren aus der inhaltlichen Verdrehung gängiger Begriffe der Außenpolitik. Sie hat nur eine Aufgabe, friedliche Beziehungen zwischen Staaten herzustellen. Das setzt voraus, unterschiedliche Interessen vor allem von Nachbarstaaten zu respektieren und zur Grundlage von für beide Seiten entstehende Verpflichtungen vertraglich festzulegen. So entstandene Verträge schaffen Abhängigkeiten, sind aber keine vom Stärkeren aufgezwungene Knebel. Der Gas- und Ölkrieg um Importe aus Russland, den USA oder Arabischen Emiraten widerspricht den Interessen des Volkes und ist abzulehnen. Darunter haben die Völker zu leiden, um deren Menschenrechte diejenigen zu kämpfen vorgeben, die sie am meisten verletzen. Ich kann es nur Verdummung des Volkes nennen, wenn Politiker glauben machen wollen, in oder mit der Diplomatie Demokratie oder Menschenrechte verteidigen zu wollen. Das Missionieren sollte religiösen Glaubensrichtungen überlassen bleiben. Interessenvertretung für das eigene Volk ist schon anstrengend genug.
Putins Überfall auf die Ukraine war aus meiner Sicht der sicher folgenschwerste Fehler seiner Regentschaft. Er handelte ebenso völkerrechtswidrig wie bisher die USA und andere Nato-Staaten. Eroberungskriege bringen Gräuel für die Zivilbevölkerung mit sich. Wenn zudem alle Männer von 18 bis 60 Jahren zum Widerstand aufgefordert werden, dann ist der Häuserkampf unvermeidlich, bei dem zwischen Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden wenig unterschieden wird. Schändlich ist, wenn Nato-Länder mit den Leiden von Frauen, Kindern und alten Leuten einen auf Behauptungen beruhenden Medienkrieg führen, bevor die Verursacher nachgewiesen sind.
Die Anerkennung von Russlands Sicherheitsinteressen und seines Platzes als europäische Großmacht ist komplizierter geworden. Die politischen Gegner USA und Nato haben über die Ukraine Russland in Zugzwänge verwickelt, die die Nato trotz innerer Widersprüche gestärkt haben. Das Volk der Ukraine ist nur der Rammbock der USA gegen Russland. Wenn Russland an internationalem Einfluss und Autorität verliert, werden die früheren asiatischen Sowjetrepubliken bald in die Nato aufgenommen. Dann ist die Westflanke der VR China von USA-Satelliten umgeben und die große Friedensidee der Volksrepublik, die neue Seidenstraße, Makulatur. Was ist dagegen zu tun?
»Die Waffen nieder« forderte Bertha von Suttner vor über einhundert Jahren. »Frieden schaffen ohne Waffen« gehört zu den heutigen Losungen gegen jede Art von Aufrüstung. Der Krieg in der Ukraine muss beendet werden. Keine Waffenlieferungen, Söldner und Kriegsdollar in die Ukraine.
Die Staaten Europas müssen sich endlich von der Vormundschaft der USA freimachen. Die Erfahrungen und Erkenntnisse der KSZE von 1975 sind aktuell aufzubereiten.
Die EU sollte dem ukrainischen Volk ohne nationalegoistisches Hin und Her helfen, die traumatischen Erlebnisse des Krieges zu überwinden und es bei der Rückkehr in ihre Heimat und beim Wiederaufbau des Landes unterstützen.