Wann werden die Menschen endlich wach? Wann wird endlich bei jedem einzelnen angekommen sein, dass er etwas gegen Kriege unternehmen muss? Warum werden Menschen erst aktiv oder haben das Gefühl, jetzt muss etwas geschehen, wenn der Krieg vor ihrer Haustür steht? Die Kriege, die fernab, tagtäglich Menschenleben fordern, werden achselzuckend hingenommen. Allenfalls wird darüber in dem Sinne disputiert, wie der »anderen Bürger« in Goethes Faust: »Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen.« Angesichts des am 24. Februar 2022 begonnen Krieges Russlands gegen die Ukraine könnte man fast geneigt sein, Erich Kästners apokalyptischer Ausblick in »Das letzten Kapitel« sei alternativlos. »Die Weltregierung, so wurde erklärt, stelle fest, dass der Plan, endgültig Frieden zu stiften, sich gar nicht anders verwirklichen lässt, als alle Beteiligten zu vergiften.«
Die Liste der Künstler ist lang, die immer wieder versucht haben, die Menschen und den Menschen aufzurütteln, gegen Kriege und Kriegstreiberei aufzutreten und »Ewigen Frieden« zu schaffen. Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Bertolt Brecht und viele, viele andere haben sich die Hände wundgeschrieben und ihre Stimme machtvoll erhoben, um die Ursachen der Kriege und ihre Schrecken als permanente Warnung jedermann ins Bewusstsein zu bringen. Was aber ist davon wirklich im kollektiven Bewusstsein eingemeißelt? Was ist vor allem im staatlichen Handeln, in der Staatspolitik fest verwurzelt? Was ist Grundkonsens wenigstens in den Ländern, die immer wieder von sich sagen, sie würden den zivilisatorischen Fortschritt verkörpern, ihre Wertegemeinschaft würde der Menschheit das Heil bringen? Stattdessen: Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz, wie es Brecht formulierte. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer.
Obwohl die Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg fest entschlossen waren, dass künftige Generationen von der Geißel des Krieges verschont bleiben und künftighin der Weltfrieden erste und oberste Priorität haben müsse, dauerte es gerade mal fünf Jahre, dass sich wieder Menschen in einem dreijährigen Krieg abschlachteten. Städte wurden bombardiert und das Leben in ihnen mit Napalm ausgelöscht. Nordkorea wurde in die Steinzeit zurückbombardiert. 4 Millionen Männer, Frauen, Kinder fanden im Korea-Krieg den Tod. Unzählige Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen wurden begangen. Dem Chefankläger der USA im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, Jackson, schwante: Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, »ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen«. Nürnberg und die Lehren daraus wurden trotz anderslautender Beteuerungen mit Füßen getreten. Und zur historischen Wahrheit gehört, dass es vor allem die USA und die von ihr dominierten Militärorganisationen waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine breite Blutspur durch die Welt zogen, ohne dass ihnen je vergiftete Becher gezeigt, geschweige denn an die Lippen geführt wurden. Weder die Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen in Korea noch die in Vietnam, Jugoslawien, im Iran und Irak, in Libyen, Jemen und Syrien wurden je gesühnt; allenfalls griff man sich die »allein Schuldigen« des überfallenen Landes heraus, stellte sie vor ein eigens dafür geschaffenes Gericht oder machte mit ihnen durch eine »extralegale Hinrichtung« kurzen Prozess. Dass dem Völkerrecht durch derartige Deformationen unermesslicher Schaden zugefügt wurde, kam und kommt den Initiatoren nicht in den Sinn.
Seit 1990 erodiert das Völkerrecht mit Riesenschritten. Nur noch Geschichtsvergessene können in Abrede stellen, dass die sozialistischen Staaten, der Warschauer Vertrag, die Bewegung der blockfreien Staaten Garanten des demokratischen Völkerrechts waren. Die Völkerrechtsverbrechen gegen Belgrad und gegen den Irak wurden somit zu Blaupausen für den Krieg in der Ukraine. Der Wahnsinn geht so weit, dass die Staatenlenker auf den jeweils anderen nach dem bekannten Motto zeigen können: Was der kann, kann ich auch. Dies widerspricht aber jedem Recht. Aus Unrecht wird nicht Recht! Das Völkerrecht ist universal und unterliegt nicht der Verjährung. Es gilt nicht nur gegenüber dem Besiegten. Wenn im eigenen Land der Aggressionskrieg gerechtfertigt wird, wenn im eigenen Land der Völkerrechtsverstoß seiner Streitkräfte Billigung erfährt oder sogar gewollt ist, können weder UNO noch ihr Sicherheitsrat noch die Verfassung der Vereinten Nationen das leisten, was sie im Interesse der Erhaltung der Menschheit und des Lebens auf unserem Planeten zwingend erforderlich ist.
Das Völkerrecht wurde in den letzten Jahrzehnten durch das imperial Faktische deformiert. Dieser imperialen Zersetzung muss Einhalt geboten werden. Zu hoffen wäre, dass die Volksrepublik China, die Bewegung der blockfreien Staaten und die Demonstranten auf den Straßen weltweit dem Völkerrecht wieder die Kraft verleihen, die es haben muss, um die Menschen heute und in Zukunft von der Geißel des Krieges bewahren.
Als im dritten Jahr des Mordgemetzels im I. Weltkrieg Russlands Sowjetmacht mit dem »Dekret über den Frieden« allen kriegführenden Völkern und deren Regierungen sofortige Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden vorschlug, wusste jedermann, dass das die Stimme der Arbeiter und Bauern war, also derjenigen Werktätigen, die stets die Zeche für die Kriegsgewinnler zu zahlen haben. Mögen sich die Werktätigen, die Arbeiter, Bauern und Soldaten aller Völker und Staaten dieses einzigartigen Staatsaktes erinnern, der lange Zeit als Richtschnur die Politik des Landes bestimmte, welches im II. Weltkrieg die meisten Opfer zu beklagen hatte. Und deshalb: »Krieg dem Kriege! Und Friede auf Erden.«