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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kontinuität der Untaten

Ein­mal begon­nen, zer­stört der Krieg jene Wesens­zü­ge, die eine besorg­te Erzie­hung, die Lie­be und die Kün­ste geformt haben. Denn wer in Geg­nern nur noch Fein­de zu sehen ver­mag, der ver­liert dabei selbst die Mensch­lich­keit. So mag auch der Ober­leut­nant zur See Hel­mut Pat­zig ein­mal davon geträumt haben, ein rit­ter­li­cher Kämp­fer zu wer­den oder viel­leicht sogar den Frie­den und das Brot der Völ­ker über die Mee­re zu tra­gen. Doch Kapi­tän­leut­nant Wil­helm Wer­ner, sein Lehr­mei­ster im heim­tücki­schen Gewer­be des U-Boot-Krie­ges – spä­ter­hin SS-Bri­ga­de­füh­rer im Stab Hein­rich Himm­lers – lehr­te ihn etwas ande­res. Des­halb belau­er­te Pat­zig im Juni 1918 als Kom­man­dant des deut­schen U-Boo­tes »U 86« das bri­ti­sche Laza­rett­schiff »Llan­do­very Cast­le«, das aus Kana­da nach Eng­land zurück­kehr­te. Pat­zig war wohl zunächst unschlüs­sig: Zum einen sah er durch das Peri­skop deut­lich, dass das weiß gestri­che­ne Schiff am Schorn­stein sowie am Rumpf vorn, mitt­schiffs und ach­tern mit über­gro­ßen roten Kreu­zen gekenn­zeich­net, also nach Völ­ker- und Kriegs­recht vor Angrif­fen geschützt war. Zum ande­ren konn­te die Ver­sen­kung des rund 12000 Ton­nen ver­drän­gen­den Schif­fes – nach den vor­her­ge­hen­den Tor­pe­die­run­gen unter Pat­zigs Kom­man­do – ein ent­schei­den­der Schritt auf dem Weg zum Kapi­tän­leut­nant, viel­leicht sogar zu höch­sten Kriegs­aus­zeich­nun­gen sein.

Wenn­gleich er schließ­lich kei­nen Bruch der Neu­tra­li­tät, kei­ne getarn­te Bewaff­nung, kei­nen Mili­tär­an­ge­hö­ri­gen an Bord der »Llan­do­very Cast­le« ent­decken konn­te, ent­schloss Pat­zig sich zum Abschuss und wur­de damit zum Kriegs­ver­bre­cher. Ein Tor­pe­do traf das Ziel mitt­schiffs, das Schiff sank sehr schnell, und von den 234 Men­schen an Bord – Besat­zung, Ärz­te, Sani­tä­ter und Kran­ken­schwe­stern – über­leb­ten ledig­lich 24 den Tag, obwohl nur weni­ge Opfer im getrof­fe­nen Maschi­nen­raum ver­brann­ten oder im Sog des sin­ken­den Schif­fes ertran­ken. Nahe­zu alle wur­den umge­bracht, um zu ver­ber­gen, was gesche­hen war: Pat­zig, der spä­ter auch den Stand­ort des Boo­tes im Log­buch fälsch­te und den Vor­fall mit kei­nem Wort erwähn­te, befahl sei­ne Besat­zung bis auf zwei Offi­zie­re und einen Maat unter Deck und ver­lang­te, die von der »Llan­do­very Cast­le« aus­ge­setz­ten Ret­tungs­boo­te zu ram­men und zu ver­sen­ken. Als das nicht gelang, ließ er das Feu­er auf die Boo­te sowie auf in der See trei­ben­de Über­le­ben­de eröff­nen. Nur ein Boot ent­kam mit zwei Dut­zend Zeu­gen der Untat in der Dun­kel­heit. Ihre Aus­sa­gen bewirk­ten nach dem Krieg eine For­de­rung der Alli­ier­ten nach Bestra­fung der Schuldigen.

Der Maat, der ver­mut­lich mit der Hil­fe eines Offi­ziers das Schnell­feu­er­ge­schütz bedien­te, starb unter rät­sel­haf­ten Umstän­den, sodass nur Pat­zig und sei­ne bei­den Wach­of­fi­zie­re wäh­rend der soge­nann­ten Leip­zi­ger Pro­zes­se 1921 vor dem Reichs­ge­richt ange­klagt wer­den konn­ten. Letz­te­re wur­den wegen Kör­per­ver­let­zung ver­ur­teilt, jedoch von Mit­glie­dern der Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Con­sul befreit und spä­ter­hin für die Haft ent­schä­digt. Pat­zig hin­ge­gen floh unter ande­rem Namen ins Bal­ti­kum und erschien erst am Ende der zwan­zi­ger Jah­re wie­der, als er kei­ne Bestra­fung mehr befürch­ten muss­te. Er stieg her­nach in der schwär­ze­sten Zeit deut­scher Geschich­te zum Mit­glied im Stab von Groß­ad­mi­ral Karl Dönitz auf, leb­te nach dem Krieg als Kauf­mann in einer west­deut­schen Groß­stadt und wur­de drei­und­neun­zig Jah­re alt. Es ist kaum ver­ständ­lich, wes­halb bri­ti­sche oder kana­di­sche Anklä­ger ihn offen­bar ver­ga­ßen, denn auch er hät­te – wenn­gleich die nie­der­träch­ti­ge Tötung von 210 Men­schen juri­stisch nur als Tot­schlag galt und ver­jährt war – als War­nung und den Gefüh­len der Hin­ter­blie­be­nen ent­spre­chend nach dem Zwei­ten Welt­krieg vor ein Gericht gehört. Nicht allein, aber schon wegen der hilf­lo­sen Kran­ken­schwe­stern, die da, teils noch im Nacht­hemd, im Juni 1918 mit dem Ertrin­ken kämpf­ten und dann in den Sal­ven von »U 86« starben.

Das mit dem Unter­gang der »Llan­do­very Cast­le« ver­bun­de­ne Kriegs­ver­bre­chen ist – das acht­zehn Sei­ten umfas­sen­de Quel­len- und Lite­ra­tur­ver­zeich­nis zeigt es – in meh­re­ren inter­na­tio­na­len und deut­schen Ver­öf­fent­li­chun­gen beschrie­ben wor­den. Frei­lich geschieht es nun erst­mals, dass ein Histo­ri­ker, der sich übri­gens schon mehr­fach mari­n­ege­schicht­li­chen The­men zuwand­te, in dem vor­lie­gen­den Buch nicht allein das Ereig­nis, sei­ne Zusam­men­hän­ge und Kon­tex­te schil­dert, son­dern dar­über hin­aus über die Kennt­nis­se eines bis­lang völ­lig unbe­kann­ten Betei­lig­ten ver­fügt, der sein Wis­sen – wohl aus Furcht vor den Tätern und vor jenen, die sie deck­ten und unter­stütz­ten – nie öffent­lich preis­gab. So wird dem Leser neben der Geschich­te von Kriegs­ver­bre­chen, die von Ange­hö­ri­gen der Reichs­ma­ri­ne began­gen wur­den, auch die Kon­ti­nui­tät die­ser Unta­ten gezeigt, ihre Ver­tu­schung und nach­läs­si­ge Ver­fol­gung mit­ge­teilt sowie Wis­sen über die gehei­men Orga­ni­sa­tio­nen ver­mit­telt, die der erwähn­te Augen­zeu­ge fürch­ten muss­te. Über die­sem wich­ti­gen und beson­de­ren Bei­trag zur inter­na­tio­na­len Fach­li­te­ra­tur ver­liert der Autor einen Men­schen nicht aus dem Blick: Hel­mut Pat­zig, des­sen ver­werf­li­chen Taten er bis nach Ost­preu­ßen und bis zum Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges nach­spürt. 

Ulrich van der Heyden: Die Affä­re Pat­zig. Ein Kriegs­ver­bre­chen für das Kai­ser­reich? Soliv­a­gus Prae­ter­itum, Kiel 2021, 239 S., 19,90 €.