Einmal begonnen, zerstört der Krieg jene Wesenszüge, die eine besorgte Erziehung, die Liebe und die Künste geformt haben. Denn wer in Gegnern nur noch Feinde zu sehen vermag, der verliert dabei selbst die Menschlichkeit. So mag auch der Oberleutnant zur See Helmut Patzig einmal davon geträumt haben, ein ritterlicher Kämpfer zu werden oder vielleicht sogar den Frieden und das Brot der Völker über die Meere zu tragen. Doch Kapitänleutnant Wilhelm Werner, sein Lehrmeister im heimtückischen Gewerbe des U-Boot-Krieges – späterhin SS-Brigadeführer im Stab Heinrich Himmlers – lehrte ihn etwas anderes. Deshalb belauerte Patzig im Juni 1918 als Kommandant des deutschen U-Bootes »U 86« das britische Lazarettschiff »Llandovery Castle«, das aus Kanada nach England zurückkehrte. Patzig war wohl zunächst unschlüssig: Zum einen sah er durch das Periskop deutlich, dass das weiß gestrichene Schiff am Schornstein sowie am Rumpf vorn, mittschiffs und achtern mit übergroßen roten Kreuzen gekennzeichnet, also nach Völker- und Kriegsrecht vor Angriffen geschützt war. Zum anderen konnte die Versenkung des rund 12000 Tonnen verdrängenden Schiffes – nach den vorhergehenden Torpedierungen unter Patzigs Kommando – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Kapitänleutnant, vielleicht sogar zu höchsten Kriegsauszeichnungen sein.
Wenngleich er schließlich keinen Bruch der Neutralität, keine getarnte Bewaffnung, keinen Militärangehörigen an Bord der »Llandovery Castle« entdecken konnte, entschloss Patzig sich zum Abschuss und wurde damit zum Kriegsverbrecher. Ein Torpedo traf das Ziel mittschiffs, das Schiff sank sehr schnell, und von den 234 Menschen an Bord – Besatzung, Ärzte, Sanitäter und Krankenschwestern – überlebten lediglich 24 den Tag, obwohl nur wenige Opfer im getroffenen Maschinenraum verbrannten oder im Sog des sinkenden Schiffes ertranken. Nahezu alle wurden umgebracht, um zu verbergen, was geschehen war: Patzig, der später auch den Standort des Bootes im Logbuch fälschte und den Vorfall mit keinem Wort erwähnte, befahl seine Besatzung bis auf zwei Offiziere und einen Maat unter Deck und verlangte, die von der »Llandovery Castle« ausgesetzten Rettungsboote zu rammen und zu versenken. Als das nicht gelang, ließ er das Feuer auf die Boote sowie auf in der See treibende Überlebende eröffnen. Nur ein Boot entkam mit zwei Dutzend Zeugen der Untat in der Dunkelheit. Ihre Aussagen bewirkten nach dem Krieg eine Forderung der Alliierten nach Bestrafung der Schuldigen.
Der Maat, der vermutlich mit der Hilfe eines Offiziers das Schnellfeuergeschütz bediente, starb unter rätselhaften Umständen, sodass nur Patzig und seine beiden Wachoffiziere während der sogenannten Leipziger Prozesse 1921 vor dem Reichsgericht angeklagt werden konnten. Letztere wurden wegen Körperverletzung verurteilt, jedoch von Mitgliedern der Terrororganisation Consul befreit und späterhin für die Haft entschädigt. Patzig hingegen floh unter anderem Namen ins Baltikum und erschien erst am Ende der zwanziger Jahre wieder, als er keine Bestrafung mehr befürchten musste. Er stieg hernach in der schwärzesten Zeit deutscher Geschichte zum Mitglied im Stab von Großadmiral Karl Dönitz auf, lebte nach dem Krieg als Kaufmann in einer westdeutschen Großstadt und wurde dreiundneunzig Jahre alt. Es ist kaum verständlich, weshalb britische oder kanadische Ankläger ihn offenbar vergaßen, denn auch er hätte – wenngleich die niederträchtige Tötung von 210 Menschen juristisch nur als Totschlag galt und verjährt war – als Warnung und den Gefühlen der Hinterbliebenen entsprechend nach dem Zweiten Weltkrieg vor ein Gericht gehört. Nicht allein, aber schon wegen der hilflosen Krankenschwestern, die da, teils noch im Nachthemd, im Juni 1918 mit dem Ertrinken kämpften und dann in den Salven von »U 86« starben.
Das mit dem Untergang der »Llandovery Castle« verbundene Kriegsverbrechen ist – das achtzehn Seiten umfassende Quellen- und Literaturverzeichnis zeigt es – in mehreren internationalen und deutschen Veröffentlichungen beschrieben worden. Freilich geschieht es nun erstmals, dass ein Historiker, der sich übrigens schon mehrfach marinegeschichtlichen Themen zuwandte, in dem vorliegenden Buch nicht allein das Ereignis, seine Zusammenhänge und Kontexte schildert, sondern darüber hinaus über die Kenntnisse eines bislang völlig unbekannten Beteiligten verfügt, der sein Wissen – wohl aus Furcht vor den Tätern und vor jenen, die sie deckten und unterstützten – nie öffentlich preisgab. So wird dem Leser neben der Geschichte von Kriegsverbrechen, die von Angehörigen der Reichsmarine begangen wurden, auch die Kontinuität dieser Untaten gezeigt, ihre Vertuschung und nachlässige Verfolgung mitgeteilt sowie Wissen über die geheimen Organisationen vermittelt, die der erwähnte Augenzeuge fürchten musste. Über diesem wichtigen und besonderen Beitrag zur internationalen Fachliteratur verliert der Autor einen Menschen nicht aus dem Blick: Helmut Patzig, dessen verwerflichen Taten er bis nach Ostpreußen und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nachspürt.
Ulrich van der Heyden: Die Affäre Patzig. Ein Kriegsverbrechen für das Kaiserreich? Solivagus Praeteritum, Kiel 2021, 239 S., 19,90 €.