Sechs lange Jahre war der Mies-van-der-Rohe-Bau der Neuen Nationalgalerie in Berlin wegen grundlegender Sanierung geschlossen. Die neue Sammlungspräsentation unter dem Titel »Die Kunst der Gesellschaft 1900-1945« bietet nun erfreulich viele spektakuläre Glanzpunkte. Dazu gehören ganz gewiss die Komplexbilder des Heinrich Vogeler aus den 1920er Jahren.
In der neuen Ausstellung geht es in dreizehn Kapiteln um das Zusammenspiel von Kunst und Gesellschaft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die ausgestellten Werke spiegeln den Weg vom deutschen Kaiserreich über den ersten Weltkrieg, die »Goldenen« Zwanziger Jahre der Weimarer Republik bis zu Nationalsozialismus, zweiter Weltkrieg und Holocaust. Und sie spannen den Bogen zum Hier und Jetzt. Eindrucksvoll führt die Neue Nationalgalerie nunmehr bedeutende Gemälde und Skulpturen der bis 1990 voneinander getrennten Sammlungen der Galerien West und Ost zusammen.
Die Ausstellungskapitel führen dem Besucher unter unterschiedlichen Überschriften die verschiedenen Kunstrichtungen der Moderne von Expressionismus über Dada bis Neue Sachlichkeit vor Augen. Es werden bedeutende Kunstwerke sowohl von Kirchner, Beckmann, Klee, Munch, Kolbe und Nolde, wie auch von Lehmbruck, Marcks, Felixmüller, Dix, Ehmsen, Kollwitz und vielen anderen dargeboten. Zum Beispiel auch das eindrucksvolle »Bildnis meiner Frau« (1929) von Hans Grundig.
Und so präsentieren die Kuratoren im Ausstellungssaal unter der Überschrift »Politik und Propaganda« auch drei ausdrucksstarke Komplexbilder von Heinrich Vogeler (1872-1942): »Kulturarbeit der Studenten im Sommer« von 1924, »Karelien und Murmansk« von 1926 sowie »Baku« aus dem Jahre 1927. Diese symbolträchtigen großformatigen Ölgemälde auf Leinwand waren Bestandteil der Schenkung der Regierung der UdSSR an die DDR aus dem Moskauer Nachlass Heinrich Vogelers, der 1942 während des Krieges nach der Deportation aus Moskau in Kasachstan verstorben war. Diese Bilder sind 1953 der Nationalgalerie Berlin (Ost) übergeben worden und sind nunmehr wertvoller Bestandteil der Neuen Nationalgalerie.
Heinrich Vogeler hatte mit seinen Komplexbildern neue Wege erschließen wollen zu einer realistischen sozialistischen Kunst, die den arbeitenden Menschen den Weg in eine neue gerechte Zukunft weisen sollte. Neben realistischen Szenen aus dem Alltag der neuen Gesellschaft sind in avantgardistischem Bildaufbau Sowjet-Symbole und agitatorische kommunistische Textzeilen zusammengestellt. Es ist überliefert, dass Vogeler etwa fünfzehn dieser sogenannten Komplexbilder gemalt hat, von denen sieben an der Zahl erhalten sind. Sie sind unter anderem in Worpswede und in der Eremitage in St. Petersburg ausgestellt. In den 1920er Jahren fanden diese Kunstwerke sowohl in der Sowjetunion, in Moskau und Leningrad, als auch in Berlin große Beachtung; zum Beispiel auf Ausstellungen im Karl-Liebknecht-Haus (1925) und im Glaspalast am Lehrter Bahnhof (1927). Nach »Formalismus«-Vorwürfen (!) hat Vogeler diese agitatorische Maltechnik aufgegeben.
Dessen ungeachtet stellen die Komplexbilder von Heinrich Vogeler einen wichtigen und bleibenden Bestandteil realsozialistischer Kunstbestrebungen dar. Ihr Erbe wird sowohl von der Neuen Nationalgalerie in Berlin als auch vor allem in Worpswede bewahrt und gepflegt. Komplexbilder von Vogeler sind zum Beispiel auch ein Ausgangs- und Höhepunkt der aktuellen Ausstellung »WIR. Bilder für eine neue Kunst des Zusammenlebens« im Barkenhoff und der Großen Kunstschau in Worpswede. Diese Ausstellungen sind bis März 2022 – dem Heinrich-Vogeler-Jubiläumsjahr 2022 – verlängert.
Die Ausstellung »Die Kunst der Gesellschaft 1900-1945«, Sammlung der Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, ist bis 2.7.2023 geöffnet. Katalog zur Ausstellung von Dieter Scholz, Irina Hiebert Grun und Joachim Jäger.