Der Bundesdeutschen Post (Post AG) war im Januar 2020 die Pressefreiheit – in Gestalt einer Briefmarke – zumindest 95 Cent wert. Weitere Wert-Zeichen, die diese stets gefährdete Freiheit thematisieren, blieben bisher aus. Doch ich verlasse besser das durchaus spannende, aber bald wohl aussterbende Gebiet der Philatelie, um hier in lesefreundlicher Kürze zwei andere Daten in den Fokus zu rücken.
Auf die Gefahr hin, gleich mehrere Eulen aus Spree-Athen nach wo auch immer hin zu tragen, erinnere ich an das Jahr 1931, in dem am 15. Dezember in der Weltbühne u. a. folgender Warnhinweis zu lesen war: »Die gleiche Not, die alle schwächt, ist Hitlers Stärke. Der Nationalsozialismus bringt wenigstens die letzte Hoffnung von Verhungernden: den Kannibalismus. Man kann sich schließlich noch gegenseitig fressen. Das ist die fürchterliche Anziehungskraft dieser Heilslehre. Sie entspricht nicht nur den wachsenden barbarischen Instinkten einer Verelendungszeit, sie entspricht vor allem der Geistessturheit und politischen Ahnungslosigkeit jener versackenden Kleinbürgerklasse, die hinter Hitler marschiert. Diese Menschen haben auch in besseren Zeitläuften nie gefragt, immer nur gegafft.«
Der Autor dieser Vorweihnachtszeilen ist Carl v. Ossietzky. Er war kurz zuvor im sogenannten »Weltbühne-Prozess« angeklagt, der im Kern zur Kommunikationskontrolle, im Übergang von der Weimarer Zeit zur tausendjährigen Nazi-Zeit, im November 1931 stattfand. Ossietzky wurde wegen angeblichen Geheimnisverrats zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte in der Weltbühne (12. März 1929) als ein früher Whistleblower über den heimlichen Aufbau einer Luftwaffe durch die Reichswehr berichtet. Kurt Tucholsky stellt dazu in der Weltbühne (20/1932) klar: »Um Ossietzky zu verhindern, beizeiten loszuschlagen, wurde die Anklage auch wegen militärischer Spionage erhoben, ein Delikt, das nicht vorgelegen hat.« Der eigentliche Autor des Luftwaffenartikels, den Ossietzky laut Tucholsky schützte, der gleichfalls verurteilte Luftfahrtexperte und Co-Autor, Walter Kreiser (1898-1958), ist, im Gegensatz zu Ossietzky, kurz nach der Urteilsverkündung nach Frankreich geflohen, später in die Schweiz und dann nach Brasilien, eine noch wenig beleuchtete Lebensgeschichte.
Wenn der Herausgeber der Weltbühne auch behauptet haben soll, dass von ihm nichts weiter zu sagen sei, so ist doch an dies Zensur-Vorspiel neunzig Jahre später und immer wieder zu erinnern, wie auch an das Jahr 1936, in dem Carl v. Ossietzky, vor 85 Jahren, der Friedensnobelpreis (rückwirkend für das Jahr 1935) zugesprochen wurde. In den nur fünf dazwischen liegenden Jahren verschärfte sich die Lage, und am 28. Februar 1933 inhaftierten die Nazis den Herausgeber der Weltbühne. Ossietzky überlebte die Haft und Sonderbehandlungen (eine vermutliche Vergiftung durch Tuberkelbazillen) nicht. Er starb am 4. Mai 1938 an den Folgen der Haft. Der »Tag der Pressefreiheit« – seit 1994 der 3. Mai – hätte auch auf diesen Tag gelegt werden können.
Wenn ich aus der Haustür trete, dann schaue ich vis-à-vis auf das Carl-von-
Ossietzky-Gymnasium in Pankow, und ein paar Straßen weiter, in der Ossietzkystraße, gehe ich oft an einer Skulptur des Bildhauers Klaus Simon vorbei. Sie steht da erst seit 1989 auf einem größeren Rasenstück zwischen den Häusern und der Straße auf einem kaum sichtbaren, sehr flachen Sockel und ist als kleine, leicht vorgebeugte, in einen Mantel gehüllte Gestalt, Hände in den Manteltaschen vergraben, schon von weitem zu erkennen. Ja, es ist, als gehe Carl v. Ossietzky, mitten im Gehen nur kurz aufgehalten, aus einem der Häuser auf die Straße zu. Ein ganz und gar unheldisches, beiläufig platziertes Denkmal, das dem Bildhauer da gelungen ist.
Die lange Geschichte der Zensur ist seit dem römischen Zwölf-Tafel-Gesetz, das die Todesstrafe bereithielt, und schon weit davor bekannt und in entsprechenden Publikationen nachzulesen. Es fand und findet die peinliche Kontrolle der Presse- und Druckerzeugnisse, die Verfolgung und Ermordung unliebsamer Autorinnen und Autoren zu allen Zeiten und in allen Kulturen, Ländern, Staaten und Systemen statt. Wenige gegenteilige Ruhmesblätter sind da bis heute zu verteilen. Das Lesen der Zensoren verfeinerte sich bis ins Lesen zwischen den Zeilen, um dort verborgene und verbotene geistige Schmuggelware aufzuspüren. Da konnte Heinrich Heine beim Grenzübertritt, als seine Koffer durchwühlt wurden, noch spotten: »Die Contrebande, die mit mir reist, die hab ich im Kopfe stecken.« (»Deutschland. Ein Wintermärchen«, 1843/44) Das beeindruckt die Zensurgewalthaber nicht, dann rollen eben die Köpfe. Es gilt nach wie vor: Die Pressefreiheit ist stets gefährdet. Dem Befund ist manches oder doch vieles noch hinzuzufügen, was die Gegenwartsgeschichte bereits von selbst und weiterhin hinzufügt, wenn wir heute in der »freien« Presse lesen und hören, wer wo weswegen angeklagt, verurteilt, gefangen gehalten wird, auf der Flucht ist, um Asyl nachsucht oder ermordet worden ist. Inzwischen gibt es zwar weltweit ein kritisches Radar- und Warnsystem, das Einschränkungen von Pressefreiheit mehr und minder erfolgreich aufspürt und anprangert, aber es will einfach nicht aufhören.
Unangenehm allerdings ist es, wenn Kollegen und Kolleginnen, die es besser wissen müssten, ihren Spott über Inhaftierte und Verfolgte nicht zügeln können, weil sie in der einen oder anderen Gegnerschaft gedankenlos ge- oder befangen sind. Die Geschichte des Namensgebers dieser Zweiwochenschrift und des in seinem Namen verliehenen Preises, ist und bleibt dem Kampf für Pressefreiheit verpflichtet, und sie bildet gleichzeitig ein wesentliches Stück hundertjähriger Zensur-, Straf- und Mordgeschichte allein in Deutschland ab.
Postskriptum: Der Kannibalismus, von dem Carl v. Ossietzky 1931 schrieb, lässt sich noch steigern. Vom in Czernowitz geborenen Alfred Gong gibt es da ein gruselig-groteskes Märchen: »Die Legende vom Nimmersatt« (1951), in der ein Mensch in einer Zelle vergessen wurde. Eingesperrt in Dunkel und Hunger, lebte er noch nach acht Wochen und begann, »nur noch Haut und Knochen«, sich selbst zu fressen, verlängerte sein Leben auf diese Weise um »zweimal acht Wochen«. »Doch als an ihm nichts übrigblieb als die Knochen, öffnete sich breit die Zellentür, und einer schrie: Du bist frei! Vor Freude fiel unser Skelett tot nieder. Unser Mann war gerettet: Zwar war es mit ihm vorbei, doch hatte er die Freiheit wieder!«
Anmerkung: Alfred Gongs (1920-1981) Lebensgeschichte, geprägt von Flucht und Exil, wurde u. a. von Peter Rychlo mehrfach publiziert. Bücher von Gong sind antiquarisch zu finden.