Auf sprachliches Glatteis zu führen, scheint neuerdings der Ehrgeiz mancherlei schreib- und redseliger Leute. Worte zum aus der Reihe tanzen zu bringen, ist angesagt. Die Musik dazu ist krass und grell. Begriffe werden aufgegriffen wie streunende Übeltäter. Alles, was bisher üblich war, zu hinterfragen, ist ja legitim. Doch in Revoluzzer-Pose Umstürze zu veranstalten, eher nicht. Wir sollen zum Gendern schlendern. So weit, so gut. Wenn es um die Balance der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern geht, gibt es dagegen kaum ernst zu nehmenden Widerspruch. Das Abklopfen der Sprachregeln auf weitere Gültigkeit ist legitim. Wo mit großsprecherischer Manneszucht Ausgewogenheit ausgehebelt wird – ab in den klärenden Waschsalon.
Inzwischen gruselt es uns allerdings beim Anblick all der mit diesem Bad ausgeschütteten Kinder. Alles, was mit »der, die, das« benannt wird, nun dem Mann-Frau-Schema zuzuordnen, widerspricht grammatischer Logik. Mond und Sonne, Uhr, Baum oder Arbeit haben kein »Geschlecht«. Ein Befall mit dem Virus »Wortsalat« überfordert unsere linguistischen Virolog(inn)en offenbar total. Wenn sie ihn nicht sogar noch befördern, indem sie vom legitimen Einzelfall zu schnell verallgemeinern. Wie es halt so kommt, wenn Mann oder Frau schnell Recht bekommen – der Übermut übertrifft den Mut. Bisher ungeahnte Seitenwege sexueller Zuordnung tun sich auf. Da wird auf einmal volle Pulle von der totalen Unsicherheit der Bestimmung des Geschlechts eines Menschen schwadroniert. Zu kaum Bezweifelbarem wird Zweifel gesät. Der oder vielmehr das Mensch könne, dürfe, ja müsse sogar selbst sein Geschlecht bestimmen.
Zu ertragen wäre, wenn das Revidieren solider Erkenntnisse auf Kosten der Wahrheit nur von amerikanischen Evangelikalen praktiziert würde. Charles Darwin muss man nicht gleich vergöttern. Und die Legende von der Geburt von Adam und Eva nehmen selbst streng Bibelgläubige nicht wörtlich. Bloß – wo es um die gleichberechtigte Zweisamkeit der beiden Geschlechter geht, führt die Favorisierung des »Dritten Geschlechts« auf den Holzweg. Und in Umlauf gebrachte Wortschöpfungen beschwören das Gespenst eines physischen Terrors: Beim uferlosen Verdacht von »Me too« drohte bereits ein feministischer Rosenkrieg. Und nun werden bereits so leise sachgerechte Einwände wie Kurt Starkes »Jenseits von Geschlecht« in Der Freitag und von Eugen Ruge in Die Zeit zur »Frage der Endung« ganz feindselig angezählt. Wenn nur jemals die Herabsetzung des Status’ der Ostbevölkerung ein solches Echo aufzuweisen gehabt hätte!
All die heiligsprechenden oder heiligstrafenden Gottfinder von 1989, wo sind sie geblieben? Die da Gottes Schöpfung zu preisen und zu schützen berufen sind – ihre Stimmen fehlen jetzt. Zu erinnern ist an das biologische Einmaleins, genannt Gottes Schöpfung! Regsame Pfäfflein und all die fraulich zutraulich Gebenedeiten haben uns rechtens den Marsch durch die Institutionen geblasen. Parole: Heraus aus den Parteidogmen, hinein ins allein Seligmachende. Die Mahnung der moralischen Instanz von Bärbel Bohley, Friedrich Schorlemmer oder Jens Reich ist verstummt. Auch Peter Michael Diestels wohlgesetzte späte Nachdenklichkeit von 2020 konnte nicht das beharrliche Schweigen von Angelika Barbe bis Vera Lengsfeld, von Rainer Eppelmann bis Werner Schulz vergessen lassen. Wen hört man sonst? Die zu absoluter Prominenz hochgestylten Wolfgang Thierse und Joachim Gauck. Putzen sie doch trübste Fehlgriffe der Einigung auf Hochglanz. Darin spiegeln sich sprachliche Irrläufer.
Zu Zeiten, als noch rassistische oder sexistische Übergriffe unbeachtet blieben, waren schnell zu aktivierende Feindbilder des Kalten Krieges im Schwange. Da blieb nichts Haltbares übrig. Zum distanzierenden Prädikat »ehemalig« gab es ein Arsenal abwertender Vokabeln: Von Stasispitzel, SED-Diktatur, Unrechtsregime bis Staatsbankrott, Gesinnungsschnüffelei und Schießbefehl. Nach objektivierender Abwägung klingt das alles nicht. Das Anmahnen schlug ins Anklagen um. Aus Nachdenken erwuchs im Handumdrehen das Vordenken fremder Verhaltensmuster. Was kaum erwartet wurde: Das der Täterschaft bezichtigte Personal gab ohne nennenswerten Widerstand auf.
Na, wie das den Triumph blitzschnell vollendeter Tatsachen begünstigte! Das Vergehende verging geradezu überstürzt. Worthülsen folgten Schlagworten. Merkwürdig, wie parallel dazu andere Sprachregelungen Platz griffen. Welcher Antifaschismus bleibt bei verordneter Vermeidung des Wortes Faschismus noch übrig? Naziherrschaft wurde in nobler Korrektheit zu »Nationalsozialismus« veredelt. Jene völkermordende Diktatur auf einer Stufe mit dem gerade Vergangenen? Die Verblüffung über jenen waghalsigen Vergleich stellte den zaghaften Protest dagegen in den Schatten.
Seitdem leben wir offenbar mit der sprachlich garnierten Fehlinterpretation. Das Beispiel solcherart Abwicklung wirkt weiter. Es macht Schule. Ganze Weltregionen unterliegen heute dank dort regierender Despoten fast unbesehen pauschaler Abwertung. Der Brustton der Überzeugung tönt durch die Medien. Wer personifiziert das? Mediale Instanzen. Ursachen und Beweggründe interessieren kaum. Insbesondere die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten erfreuen sich kaum differenzierter Interpretation. Kulturelle Aktivitäten werden etwa aus den uns immer nahen östlichen Nachbarländern kaum bekannt. Die Intellektuellen Polens und Ungarns hatten uns immer so viel zu bieten – wo ist ihr Einfluss geblieben? Bulgaren oder Rumänen ziehen mit Serben und Kroaten in puncto Nichtbeachtung gleich. Was im immer noch riesigen Herrschaftsbereich Wladimir Putins vor sich geht, ist in der Berichterstattung reduziert auf einen begünstigten Gegenspieler.
Russische Themen, falls nur von fern sowjetisch grundiert, sind in den engen Kodex distanzierender Sprachregelung verbannt. Bis zu Flügen in den Weltraum wird wertend sortiert. Sigmund Jähn war als Partner sowjetischer Kosmonauten erster Deutscher im Weltall. Im kommunalen Disput um die Benennung eines Hallenser Planetariums muss er als »Repräsentant des Unrechtregimes« auf die Strafbank. Naja, die Popularität von Sportlern, Künstlern oder anderen damaligen Leistungsträgern muss den anderen Deutschen stets erst mühsam vermittelt werden. So geht es aber umgekehrt mit der Abkehr von Vorurteilen ebenfalls. Wenn nun rassistische und sexistische Arroganz in westlichen Breiten verbreiteter waren als im Osten? Immerhin war man dort eng befreundet mit Regimen, die wie Spanien und Portugal noch lange kolonialistische Unterdrückung veranstalteten. Und wer hat denn die Praktiken der Apartheid tatkräftig unterstützt? Wer war gewöhnt, über Neger und Zigeuner herzuziehen? Das Dasein in den etablierten Wohlstandszonen der Ersten Welt provozierte das doch offenbar.
Menschliche Qualitäten werden eben vom Mangel an gutem Gewissen angezehrt. Es nagen die Versuchung und die Verführung an ihnen. Die Überlegung, was die günstigsten Ergebnisse verspricht, baut moralische Hemmungen ab. Da ist es kein Wunder, dass das Eigene nur über das Eigentum definiert wird. Allmächtiges Kosten-Nutzen-Denken entmenschlicht unseren Sprachschatz. Der Spruch »Wer hat was dafür bezahlt« zieht Museumsgut ausschließlich auf die Krämerebene.
Echte künstlerische Werte sind jedoch im Humanen, nicht im Merkantilen zu finden. Warum stets von »Raubkunst« sprechen? »Raubende und Beraubte« – das ist nur ein Krimi. Exotische Kunst aber gehört zum Weltkulturerbe. Deren Geist hat da, wo sie zu sehen war, Geschichte gemacht. Was bisher für die Öffentlichkeit nur als ethnografisches Objekt interessant war, bleibt als Objekt einer Restitution kunstfremd. Wer alles nur mit einem Geldwert fixiert, verliert das Gespür für Kultur.