Zuweilen wird heute, mehr als 30 Jahre nach der staatlichen Einheit Deutschlands, da nunmehr die Versäumnisse, Fehler, bewusste Ungleichbehandlungen endlich breiter und intensiver als je zuvor benannt werden, der »Einigungsprozess« als Kolonisierung verstanden. Im Verlaufe der Diskussionen zur Definition von Kolonialismus, also der Herrschaftsform von vornehmlich europäischen Staaten über Völker und Regionen im heute sogenannten Globalen Süden, worüber es in der Fachwelt seit Jahren keine befriedigende Einigung gibt, wurde nicht zuletzt darüber gestritten, wer diese Theorie der Kolonisierung der DDR in die politischen Debatten eingebracht hat.
Die einen meinen, es sei eine satirische Volte auf die »Kohlonisierung«, also auf den Namen desjenigen westdeutschen Politikers, der, anscheinend visionär veranlagt, den »Eingeborenen« blühende Landschaften versprach. Die anderen, etwas seriöseren Forscher gehen davon aus, dass der Begriff von dem DDR-Dramatiker Heiner Müller in die Diskussion gebracht worden sei.
Heiner Müllers Kritik an dem Vereinigungsprozess in allen Ehren, auch diejenigen, die die Ostdeutschen später als »Kolonisierte« bezeichneten und sich zu dem einen oder anderen Vergleich der Prozesse zwischen der Kolonisation der außereuropäischen Welt und des deutschen »Vereinigungsprozesses« veranlasst sahen, haben ihren Anteil daran, dass die gegenwärtigen Realitäten in Deutschland ans Tageslicht gelangen. Denn viele Aspekte von den Vorgängen, die seit dreißig Jahren hierzulande passieren, lassen sich tatsächlich mit den als Kolonisierung in den 1880er Jahren in Afrika und anderswo einsetzenden Übernahme- und Herrschaftsprozessen, also die Zeit der direkten Kolonialherrschaft, vergleichen.
Aber die Suche nach einer allgemein anerkannten Definition soll hier nicht im Mittelpunkt stehen. Vielmehr sei ein Blick auf die These von der Kolonisierung der DDR aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht von einem Kolonialhistoriker erlaubt. Denn diese These stammt in Wahrheit von westdeutschen Kollegen. Und zwar schon gleich nach dem Mauerfall.
Es war im Januar oder Februar 1990, als ich in unser Arbeitszimmer im Institut für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften kam, wo der international bekannte DDR-Kolonialhistoriker Peter Sebald sich in intensiver Diskussion mit dem mir dann vorgestellten Direktor des Instituts für Ethnologie der Freien Universität Berlin, Georg Elwert, befand. Jener versuchte, uns davon zu überzeugen, den einsetzenden Prozess der staatlichen Vereinigung mit den Augen der Afrikakenner und Kolonialhistoriker zu begleiten. Als Experte auf dem Gebiet der Ethnologie, Entwicklungssoziologie und Geschichte Afrikas ahnte oder wusste er, was in den entsprechenden Variationen auf die Ostdeutschen zukommen würde. Es waren bedenkenswerte Anregungen, die wir Afrika- und Kolonialhistoriker, die sich nun mittendrin in einem aktuellen Kolonisierungsprozess sahen, erhielten.
Aufgegriffen und in die höheren wissenschaftlichen Debatten gebracht wurde die These dann von einem Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Fritz Vilmar. Er stellte die Theorie von der Kolonisierung der DDR auf ein haltbares Konstrukt. Im Jahre 1995 und 1996 veröffentlichte er mit Wolfgang Dümcke zwei Sammelbände zur Thematik: »Kolonialisierung der DDR«. Das rief bei einigen Westkollegen nicht nur Zustimmung hervor. Vor allem wurde die angebliche Gewaltlosigkeit des deutschen Vereinigungsprozesses als Unterschied zu dem Kolonisationsprozess in Afrika und anderswo hervorgehoben. Dies war wohl ein Grund dafür, dass Fritz Vilmar nach zehn Jahren deutscher Einheit eine Bilanz unter dem Aspekt der Vergleichbarkeit mit einem klassischen Kolonisierungsprozess unter dem Titel »Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft« einforderte. Auch sprach er nun von einer »strukturellen Kolonialisierung«.
Es kann nicht oft genug betont werden, dass Fritz Vilmar derjenige war, der die zuvor als propagandistisch betrachtete Verwendung des Begriffs »Kolonisierung« in den fortlaufenden Diskussionen auf ein akademisches Niveau hob. Er forderte vor allem eine kritische Begleitung des deutschen Einigungsprozesses durch die Sozialwissenschaften, insbesondere durch die Politologie. Deren Aufgabe sah er darin, »den Zusammenhang von Fehleinschätzungen/Fehlsteuerungen und Interessendurchsetzung westdeutscher Entscheidungsträger offenzulegen, die trotz gewaltiger Transferzahlungen insgesamt zum Misslingen des ›Aufschwungs Ost‹ führen mussten«. Er kritisierte: »Die deutsche Sozial- und insbesondere die Politikwissenschaft verfertigt zwar massenhaft Detailrecherchen zum ›Transformationsprozess‹, weigert sich aber, die bedrohlichen Fehlsteuerungen der Wiedervereinigung als ihre alles andere überragende wissenschaftliche, ja wissenschaftsethische Aufgabe zur Kenntnis zu nehmen.«
Zuweilen wird in der Fachliteratur deutlich, wie Recht er hatte, etwa wenn in wissenschaftlichen Publikationen nunmehr gefragt wird, »ob wir überhaupt von einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur reden können oder ob es sich bei dieser nicht um eine westdeutsche Erinnerungskultur handelt, die ihrerseits die DDR-Geschichte kolonisiert«. So formulierte es 2016 der Direktor des Instituts für Empirische Kulturwissenschaften der Tübinger Universität, Thomas Thiemeyer, in einem Aufsatz über koloniale Erinnerungskultur.
Schon Fritz Vilmar wusste seine These faktenreich zu begründen, etwa in dem gemeinsam mit Stefan Bollinger herausgegebenen zweibändigen Werk (2002) »Die DDR war anders. Kritische Würdigung ihrer wichtigen sozialkulturellen Einrichtungen«. Darin machte er darauf aufmerksam, dass durch »die weitgehende Nichtzurkenntnisnahme, Leugnungen und sogar Herabwürdigung wissenschaftlicher (…) Leistungen, die es in der DDR trotz der inhumanen Strukturen unter der SED-Herrschaft gab«, nach 1990 ein Prozess eingeleitet und durchgeführt worden ist, der an die insbesondere seit 1884/85 in den deutschen Kolonien vollzogene Beseitigung der Herrschaftseliten erinnert. Damals wie heute sei ein wie auch immer historisch gewachsenes System vollständig beseitigt oder dominiert worden. »Der Tatbestand der Kolonisierung umfasst mehr als die Prozesse der weltweiten europäischen Expansion vom 16. bis 19. Jahrhundert. Kolonisierung bedeutet in ihrem Kern die politische, ökonomische und kulturelle Dominanz eines gesellschaftlichen Systems im Verhältnis zu einem anderen.«
Interessant ist auch ein weiteres zu Vergleichszwecken heranzuziehendes Beispiel: In einem anderen Zusammenhang wurde der weltweite Kolonisierungsprozess, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt hatte, von dem Schweizer Journalisten und Asienexperten Urs Schoettli wie folgt beschrieben: »In der Regel geschieht dies in drei Phasen: möglichst umfassende Zerstörung des vorgefundenen Erbes, Assimilation der Unterworfenen an die Werte der Eroberer, Integration der Besiegten in die eigene Geschichte der Sieger.« Wo, so die wohl berechtigte Frage, gibt es da Unterschiede zu dem, was im Osten Deutschlands passiert ist?
Ein interessanter Nebenaspekt ist die Tatsache, dass zu Beginn des Kolonisierungsprozesses diejenige Berufsgruppe, die am ehesten in der Lage gewesen wäre, die Vergangenheit erklären zu können, die Historiker, wohl am striktesten »abgewickelt« wurde. Sogar konservative Kollegen aus dem Westen, wie der Historiker Wolfgang J. Mommsen, kritisierten dies und warnten schon frühzeitig vor einer »intellektuellen Kolonisierung« Ostdeutschlands.
Selbst einige Politiker, die durch den Untergang der DDR ihre Karrieren neu einrichten konnten, wie der einstige DDR-Bürgerrechtler und seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, können sich des Eindrucks der Kolonisierung nicht erwehren. Krüger führte im Oktober 2017 in einem Interview aus: »Auch wenn es auf den ersten Blick mit Angela Merkel als Kanzlerin und dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck anderes aussieht: In der Fläche wird die Dominanz der Westdeutschen in den Eliten immer noch als kultureller Kolonialismus erlebt.«
Als Fazit bleibt, dass Fritz Vilmar sich nicht nur für ein tolerantes Miteinander der Ost- und Westdeutschen einsetzte und es nicht nur bei Ermahnungen zu Fehlentwicklungen beließ, sondern er befasste sich auch detailliert mit den Wirkungsmechanismen und den Folgen der Kolonisierung der DDR. Seine Pläne konnte er vor seinem Tode nicht mehr umsetzen. Aber andere haben seine Anregungen aufgegriffen. Es wäre nunmehr höchste Zeit, die wissenschaftliche Aufarbeitung des Kolonisierungsprozesses der DDR auch öffentlich zu fördern.