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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kolonisierung der Ex-DDR

Zuwei­len wird heu­te, mehr als 30 Jah­re nach der staat­li­chen Ein­heit Deutsch­lands, da nun­mehr die Ver­säum­nis­se, Feh­ler, bewuss­te Ungleich­be­hand­lun­gen end­lich brei­ter und inten­si­ver als je zuvor benannt wer­den, der »Eini­gungs­pro­zess« als Kolo­ni­sie­rung ver­stan­den. Im Ver­lau­fe der Dis­kus­sio­nen zur Defi­ni­ti­on von Kolo­nia­lis­mus, also der Herr­schafts­form von vor­nehm­lich euro­päi­schen Staa­ten über Völ­ker und Regio­nen im heu­te soge­nann­ten Glo­ba­len Süden, wor­über es in der Fach­welt seit Jah­ren kei­ne befrie­di­gen­de Eini­gung gibt, wur­de nicht zuletzt dar­über gestrit­ten, wer die­se Theo­rie der Kolo­ni­sie­rung der DDR in die poli­ti­schen Debat­ten ein­ge­bracht hat.

Die einen mei­nen, es sei eine sati­ri­sche Vol­te auf die »Kohloni­sie­rung«, also auf den Namen des­je­ni­gen west­deut­schen Poli­ti­kers, der, anschei­nend visio­när ver­an­lagt, den »Ein­ge­bo­re­nen« blü­hen­de Land­schaf­ten ver­sprach. Die ande­ren, etwas seriö­se­ren For­scher gehen davon aus, dass der Begriff von dem DDR-Dra­ma­ti­ker Hei­ner Mül­ler in die Dis­kus­si­on gebracht wor­den sei.

Hei­ner Mül­lers Kri­tik an dem Ver­ei­ni­gungs­pro­zess in allen Ehren, auch die­je­ni­gen, die die Ost­deut­schen spä­ter als »Kolo­ni­sier­te« bezeich­ne­ten und sich zu dem einen oder ande­ren Ver­gleich der Pro­zes­se zwi­schen der Kolo­ni­sa­ti­on der außer­eu­ro­päi­schen Welt und des deut­schen »Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses« ver­an­lasst sahen, haben ihren Anteil dar­an, dass die gegen­wär­ti­gen Rea­li­tä­ten in Deutsch­land ans Tages­licht gelan­gen. Denn vie­le Aspek­te von den Vor­gän­gen, die seit drei­ßig Jah­ren hier­zu­lan­de pas­sie­ren, las­sen sich tat­säch­lich mit den als Kolo­ni­sie­rung in den 1880er Jah­ren in Afri­ka und anders­wo ein­set­zen­den Über­nah­me- und Herr­schafts­pro­zes­sen, also die Zeit der direk­ten Kolo­ni­al­herr­schaft, vergleichen.

Aber die Suche nach einer all­ge­mein aner­kann­ten Defi­ni­ti­on soll hier nicht im Mit­tel­punkt ste­hen. Viel­mehr sei ein Blick auf die The­se von der Kolo­ni­sie­rung der DDR aus wis­sen­schafts­ge­schicht­li­cher Sicht von einem Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker erlaubt. Denn die­se The­se stammt in Wahr­heit von west­deut­schen Kol­le­gen. Und zwar schon gleich nach dem Mauerfall.

Es war im Janu­ar oder Febru­ar 1990, als ich in unser Arbeits­zim­mer im Insti­tut für All­ge­mei­ne Geschich­te der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten kam, wo der inter­na­tio­nal bekann­te DDR-Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker Peter Sebald sich in inten­si­ver Dis­kus­si­on mit dem mir dann vor­ge­stell­ten Direk­tor des Insti­tuts für Eth­no­lo­gie der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin, Georg Elwert, befand. Jener ver­such­te, uns davon zu über­zeu­gen, den ein­set­zen­den Pro­zess der staat­li­chen Ver­ei­ni­gung mit den Augen der Afri­ka­ken­ner und Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker zu beglei­ten. Als Exper­te auf dem Gebiet der Eth­no­lo­gie, Ent­wick­lungs­so­zio­lo­gie und Geschich­te Afri­kas ahn­te oder wuss­te er, was in den ent­spre­chen­den Varia­tio­nen auf die Ost­deut­schen zukom­men wür­de. Es waren beden­kens­wer­te Anre­gun­gen, die wir Afri­ka- und Kolo­ni­al­hi­sto­ri­ker, die sich nun mit­ten­drin in einem aktu­el­len Kolo­ni­sie­rungs­pro­zess sahen, erhielten.

Auf­ge­grif­fen und in die höhe­ren wis­sen­schaft­li­chen Debat­ten gebracht wur­de die The­se dann von einem Pro­fes­sor für Poli­tik­wis­sen­schaft am Otto-Suhr-Insti­tut der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin, Fritz Vil­mar. Er stell­te die Theo­rie von der Kolo­ni­sie­rung der DDR auf ein halt­ba­res Kon­strukt. Im Jah­re 1995 und 1996 ver­öf­fent­lich­te er mit Wolf­gang Dümcke zwei Sam­mel­bän­de zur The­ma­tik: »Kolo­nia­li­sie­rung der DDR«. Das rief bei eini­gen West­kol­le­gen nicht nur Zustim­mung her­vor. Vor allem wur­de die angeb­li­che Gewalt­lo­sig­keit des deut­schen Ver­ei­ni­gungs­pro­zes­ses als Unter­schied zu dem Kolo­ni­sa­ti­ons­pro­zess in Afri­ka und anders­wo her­vor­ge­ho­ben. Dies war wohl ein Grund dafür, dass Fritz Vil­mar nach zehn Jah­ren deut­scher Ein­heit eine Bilanz unter dem Aspekt der Ver­gleich­bar­keit mit einem klas­si­schen Kolo­ni­sie­rungs­pro­zess unter dem Titel »Kri­ti­sche Zwi­schen­bi­lanz der Ver­ei­ni­gungs­po­li­tik. Eine uner­le­dig­te Auf­ga­be der Poli­tik­wis­sen­schaft« ein­for­der­te. Auch sprach er nun von einer »struk­tu­rel­len Kolonialisierung«.

Es kann nicht oft genug betont wer­den, dass Fritz Vil­mar der­je­ni­ge war, der die zuvor als pro­pa­gan­di­stisch betrach­te­te Ver­wen­dung des Begriffs »Kolo­ni­sie­rung« in den fort­lau­fen­den Dis­kus­sio­nen auf ein aka­de­mi­sches Niveau hob. Er for­der­te vor allem eine kri­ti­sche Beglei­tung des deut­schen Eini­gungs­pro­zes­ses durch die Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, ins­be­son­de­re durch die Poli­to­lo­gie. Deren Auf­ga­be sah er dar­in, »den Zusam­men­hang von Fehleinschätzungen/​Fehlsteuerungen und Inter­es­sen­durch­set­zung west­deut­scher Ent­schei­dungs­trä­ger offen­zu­le­gen, die trotz gewal­ti­ger Trans­fer­zah­lun­gen ins­ge­samt zum Miss­lin­gen des ›Auf­schwungs Ost‹ füh­ren muss­ten«. Er kri­ti­sier­te: »Die deut­sche Sozi­al- und ins­be­son­de­re die Poli­tik­wis­sen­schaft ver­fer­tigt zwar mas­sen­haft Detail­re­cher­chen zum ›Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess‹, wei­gert sich aber, die bedroh­li­chen Fehl­steue­run­gen der Wie­der­ver­ei­ni­gung als ihre alles ande­re über­ra­gen­de wis­sen­schaft­li­che, ja wis­sen­schafts­ethi­sche Auf­ga­be zur Kennt­nis zu nehmen.«

Zuwei­len wird in der Fach­li­te­ra­tur deut­lich, wie Recht er hat­te, etwa wenn in wis­sen­schaft­li­chen Publi­ka­tio­nen nun­mehr gefragt wird, »ob wir über­haupt von einer gesamt­deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur reden kön­nen oder ob es sich bei die­ser nicht um eine west­deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur han­delt, die ihrer­seits die DDR-Geschich­te kolo­ni­siert«. So for­mu­lier­te es 2016 der Direk­tor des Insti­tuts für Empi­ri­sche Kul­tur­wis­sen­schaf­ten der Tübin­ger Uni­ver­si­tät, Tho­mas Thie­mey­er, in einem Auf­satz über kolo­nia­le Erinnerungskultur.

Schon Fritz Vil­mar wuss­te sei­ne The­se fak­ten­reich zu begrün­den, etwa in dem gemein­sam mit Ste­fan Bol­lin­ger her­aus­ge­ge­be­nen zwei­bän­di­gen Werk (2002) »Die DDR war anders. Kri­ti­sche Wür­di­gung ihrer wich­ti­gen sozi­al­kul­tu­rel­len Ein­rich­tun­gen«. Dar­in mach­te er dar­auf auf­merk­sam, dass durch »die weit­ge­hen­de Nichtz­ur­kennt­nis­nah­me, Leug­nun­gen und sogar Her­ab­wür­di­gung wis­sen­schaft­li­cher (…) Lei­stun­gen, die es in der DDR trotz der inhu­ma­nen Struk­tu­ren unter der SED-Herr­schaft gab«, nach 1990 ein Pro­zess ein­ge­lei­tet und durch­ge­führt wor­den ist, der an die ins­be­son­de­re seit 1884/​85 in den deut­schen Kolo­nien voll­zo­ge­ne Besei­ti­gung der Herr­schafts­eli­ten erin­nert. Damals wie heu­te sei ein wie auch immer histo­risch gewach­se­nes System voll­stän­dig besei­tigt oder domi­niert wor­den. »Der Tat­be­stand der Kolo­ni­sie­rung umfasst mehr als die Pro­zes­se der welt­wei­ten euro­päi­schen Expan­si­on vom 16. bis 19. Jahr­hun­dert. Kolo­ni­sie­rung bedeu­tet in ihrem Kern die poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und kul­tu­rel­le Domi­nanz eines gesell­schaft­li­chen Systems im Ver­hält­nis zu einem anderen.«

Inter­es­sant ist auch ein wei­te­res zu Ver­gleichs­zwecken her­an­zu­zie­hen­des Bei­spiel: In einem ande­ren Zusam­men­hang wur­de der welt­wei­te Kolo­ni­sie­rungs­pro­zess, der zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts sei­nen Höhe­punkt hat­te, von dem Schwei­zer Jour­na­li­sten und Asi­en­ex­per­ten Urs Schoett­li wie folgt beschrie­ben: »In der Regel geschieht dies in drei Pha­sen: mög­lichst umfas­sen­de Zer­stö­rung des vor­ge­fun­de­nen Erbes, Assi­mi­la­ti­on der Unter­wor­fe­nen an die Wer­te der Erobe­rer, Inte­gra­ti­on der Besieg­ten in die eige­ne Geschich­te der Sie­ger.« Wo, so die wohl berech­tig­te Fra­ge, gibt es da Unter­schie­de zu dem, was im Osten Deutsch­lands pas­siert ist?

Ein inter­es­san­ter Neben­aspekt ist die Tat­sa­che, dass zu Beginn des Kolo­ni­sie­rungs­pro­zes­ses die­je­ni­ge Berufs­grup­pe, die am ehe­sten in der Lage gewe­sen wäre, die Ver­gan­gen­heit erklä­ren zu kön­nen, die Histo­ri­ker, wohl am strik­te­sten »abge­wickelt« wur­de. Sogar kon­ser­va­ti­ve Kol­le­gen aus dem Westen, wie der Histo­ri­ker Wolf­gang J. Momm­sen, kri­ti­sier­ten dies und warn­ten schon früh­zei­tig vor einer »intel­lek­tu­el­len Kolo­ni­sie­rung« Ostdeutschlands.

Selbst eini­ge Poli­ti­ker, die durch den Unter­gang der DDR ihre Kar­rie­ren neu ein­rich­ten konn­ten, wie der ein­sti­ge DDR-Bür­ger­recht­ler und seit 2000 Prä­si­dent der Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung, Tho­mas Krü­ger, kön­nen sich des Ein­drucks der Kolo­ni­sie­rung nicht erweh­ren. Krü­ger führ­te im Okto­ber 2017 in einem Inter­view aus: »Auch wenn es auf den ersten Blick mit Ange­la Mer­kel als Kanz­le­rin und dem ehe­ma­li­gen Bun­des­prä­si­den­ten Joa­chim Gauck ande­res aus­sieht: In der Flä­che wird die Domi­nanz der West­deut­schen in den Eli­ten immer noch als kul­tu­rel­ler Kolo­nia­lis­mus erlebt.«

Als Fazit bleibt, dass Fritz Vil­mar sich nicht nur für ein tole­ran­tes Mit­ein­an­der der Ost- und West­deut­schen ein­setz­te und es nicht nur bei Ermah­nun­gen zu Fehl­ent­wick­lun­gen beließ, son­dern er befass­te sich auch detail­liert mit den Wir­kungs­me­cha­nis­men und den Fol­gen der Kolo­ni­sie­rung der DDR. Sei­ne Plä­ne konn­te er vor sei­nem Tode nicht mehr umset­zen. Aber ande­re haben sei­ne Anre­gun­gen auf­ge­grif­fen. Es wäre nun­mehr höch­ste Zeit, die wis­sen­schaft­li­che Auf­ar­bei­tung des Kolo­ni­sie­rungs­pro­zes­ses der DDR auch öffent­lich zu fördern.