Nee, schön sind sie nicht, aber beeindruckend. Wuchtig, imposant und majestätisch. Und zudem ein Wunder, weil sie – neben dem toten Gehölz – viele grüne Zweige in den Himmel recken. Selbst die Baumbiologen bezeichnen es als »unfassbar«, dass sie trotz Dürre und Hitzeperioden noch immer Wasser bis in eine Höhe von mehr als dreißig Metern pumpen und dort das Eichenlaub wachsen lassen. Und das seit tausend Jahren.
Kurz vor der Reuterstadt Stavenhagen, am Rande der Mecklenburgischen Seenplatte, stehen sie in einem Park. Der ist beachtliche 150 Hektar groß und wartet mit weiteren Sehenswürdigkeiten auf. Wie auch Ivenack selbst, das vor der Reformation ein Kloster für Zisterzienserinnen war und später mecklenburgischer Fürstensitz mit Schloss, Kirche, Teehaus, Orangerie und diversen Bauten, an deren Restaurierung aktuell gearbeitet wird. An einigen barocken Gebäuden sind die Gerüste schon gefallen. Ein hübsches Dörflein, das einen Besuch lohnt. Nationales Kulturgut, wie es heißt, obgleich das Gebäudeensemble 2012 für einen sechsstelligen Betrag an einen dänischen Geschäftsmann ging, der nun das Kleinod herausputzt.
Magnet sind natürlich die Eichen, die deutschesten aller deutschen Bäume und hier sogar Deutschlands älteste. Alle möglichen Dichter haben die Ivenacker Eichen besungen, Fritz Reuter natürlich auch, die Post der DDR machte sie 1977 mit einer Briefmarke publik, und knapp vier Jahrzehnte später erklärte man sie zum Nationalen Naturmonument, Deutschlands erstem.
Dabei sind sich die Experten noch nicht einmal sicher, ob diese schrundigen Stämme achthundert oder tausend Jahre alt sind oder vielleicht sogar noch um einiges älter, denn selbst wenn man die Bäume fällte, um die Jahresringe zu zählen, käme man nicht weiter: Die Bäume sind nämlich hohl. Und haben damit den Beweis erbracht, dass sie Physik und Mathematik beherrschen. Der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler hat sich im 18. Jahrhundert nämlich damit beschäftigt, wann und unter welchen Umständen Stäbe instabil werden, also knicken. Ist der Stab jedoch ein Hohlzylinder, kann er sich verformen, biegen, aber nicht brechen. Das »weiß« der Baum offenbar, und deshalb sorgt er im Laufe seines sehr langen Lebens dafür, dass Pilze und Mikroorganismen ihn aushöhlen, damit er dem Wind trotz großer Krone besser trotzen kann. Damit erweist er sich als klüger als manche Behörde, die oft hohle Bäume wegen der Verkehrssicherheit fällen oder, was nicht minder verkehrt ist, mit Beton füllen lässt. Auch damit bringt man sie um.
Obgleich es reizt, die gewaltigen Stämme zu umfassen, die Finger in die tiefen Furchen der Borke zu legen, ist dies unmöglich. Balken halten die staunenden Besucher auf Distanz, was nicht nur verhindern soll, dass die Böden überm Wurzelwerk durch tausende Füße verdichtet und die Regenwürmer vertrieben werden. Die Würmer wurden hier tatsächlich von den Wissenschaftlern gezählt, wie eben auch die Ausscheidungen des hier gehaltenen Damwildes gemessen wurde, was zu dem Schluss führte, den Wildbestand zu reduzieren – bislang kämen die Eichen zwar mit dem überschüssigen Stickstoff gut zurecht, aber weniger wäre vielleicht besser.
Die Absperrungen, und das ist nun total undeutsch und mir sympathisch, werden nicht etwa mit einem Verbot begründet, sondern mit grünen Tafeln, auf denen zu lesen steht: »Eichenholz ist schwer! Besonders dann, wenn es aus dreißig Metern Höhe herabstürzt.« Die Warnung verfehlt ihre Wirkung nicht, wenngleich die Wahrscheinlichkeit, von einem Ast in Ivenack erschlagen zu werden, eher gering ist. Aber bekanntlich kann man auch auf den Champs-Élysées von einem herabstürzenden Holz erschlagen werden, wie wir seit Ödön von Horvárths Ende wissen. Dessen Tod 1938 ist auf der riesigen Zeitleiste nicht vermerkt, welche am Fuße der mächtigsten Eiche deren Leben in Jahreszahlen darstellt. Darauf ist ihr Geburtsjahr mit 995 angeben, es geht über die Entdeckung Amerikas 1492 – da war der Baum schon fünfhundert Jahre alt – und 1713, als der sächsische Bergrat Hans Carl von Carlowitz sein Buch »Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht« veröffentlichte. Darin kreierte er übrigens den Begriff Nachhaltigkeit. Von Carlowitz forderte, respektvoll und pfleglich mit der Natur und ihren Rohstoffen umzugehen, und kritisierte den auf kurzfristigen Gewinn ausgelegten Raubbau der Wälder. Alles also schon mal dagewesen.
Die letzte Zahl auf der Leiste lautet 1939. In den folgenden Jahren sollte an Hunderte Kriegsverbrecher das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen werden. Das letzte Eichenlaub, das 869., bekam ein Oberstleutnant Friedrich Lier am 8. Mai 1945. Überflüssig zu erwähnen, dass in der Bundeswehr 674 Ritterkreuzträger dienten, 117 schafften es bis zum General.
Was man so alles lernen kann, wenn man unter uralten deutschen Eichen wandelt.