Über den allseits beklagten Werteverfall in der Justiz ist in Ossietzky schon mehrfach geschrieben worden. Manches davon ist »hausgemacht«. Vor 30 Jahren wusste man noch, wie ein Richter oder der Direktor eines Gerichts aussieht oder hatte eine gewisse Vorstellung, wie er aussehen könnte. Es gab so etwas wie eine ungeschriebene Kleiderordnung. Nun bin ich gewiss niemand, der Menschen nach ihrem Äußeren beurteilt. Eine solche Oberflächlichkeit verbietet sich in jeder Hinsicht. Wenn ich eines in über 30 Jahren Tätigkeit als Strafverteidiger gelernt habe, dann dass Mörder selten wie Mörder und Räuber selten wie Räuber aussehen … Man versetze sich aber in die umgekehrte Betrachtungsweise: Welcher Angeklagte will wirklich einen Richter oder eine Richterin vor sich sitzen haben mit ausgewaschenen oder gar modern durchlöcherten Jeans, T-Shirt (gegebenenfalls noch mit Aufschrift) oder bis zum dritten Knopf geöffnetem Hemd, so dass das Brusthaar des Mannes erkennbar wird? Bei einem solchen Anblick drohen die Konturen zum »Zuhälter vom Kiez« leicht zu verwischen. Nun muss man das gewiss nicht in Mord- und Raubprozessen vor Landgerichten befürchten. Bei kleinen Amtsgerichten nimmt man es allerdings hier und da nicht immer so genau mit der Anzugskultur. Da kann es einem schon mal passieren, dass ein Haftbefehl in einem ausgewaschenen Pullover verkündet wird oder der Richter – vorzugsweise im Sommer – kurze Hosen zur schwarzen Robe trägt und beim Hervortreten vom Richtertisch die nackten Unterschenkel am Ende derselben zu Tage treten. Nun könnte man sagen: Egal, Hauptsache, der Beschuldigte wird fair behandelt und das Recht richtig angewendet. Das scheint mir doch zu kurz gedacht. Es gibt öffentliche Berufe, die erfordern ein gewisses Erscheinungsbild, um Autorität und vor allem auch Vertrauen zu erzeugen. Wer das unterschätzt, sollte sich die These vorlegen, dass es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck gibt. Sieht mein Richter äußerlich »unaufgeräumt« aus, wird man schnell den Eindruck gewinnen, er sei es auch innerlich und mithin die Sache betreffend. Spätestens an dieser Stelle wird erkennbar, was neben vielen anderen Faktoren dem Ansehen der Justiz schadet. Wenn wir von Rechtspflege sprechen, sollte auch der dafür zuständige Mann »gepflegt« sein und nicht durch ein zerknittertes Jackett und Stoppelbart den Verdacht einer durchzechten Nacht aufkommen lassen. Ein Amtsgerichtsdirektor sollte, wenn er über den Gerichtsflur geht, nicht den Anschein erwecken, er befinde sich gerade im Urlaub und schaue nur mal schnell herein. Keine Bank und keine Versicherung würde einem ihrer Mitarbeiter so Umgang mit Menschen gestatten. Was dort geradezu Usus ist, sollte doch bitte auch für Vertreter der dritten Gewalt im Staate gelten.