Eben versuche ich den, wie ich finde, sentimentalen, um nicht zu schreiben: hart am Kitsch vorbeirauschenden Schluss von Christian Barons Roman zu verdauen. Meine Hoffnung für ihn ist: ein langes Leben mit entsprechender Erfahrung, so dass sein letztes Wort nicht »Papa« sein wird.
Ich frage mich, ob der Titel nicht eine Art Parodie auf einen anderen Buchtitel ist: »Führer seiner Klasse«. Keineswegs möchte ich hier anregen, sich mit diesem zu beschäftigen, es wird noch dauern, bis wir zu einer vernünftigen Einschätzung dessen »Leistungen« (!) kommen.
Eine andere Biografie fällt mir ein, die über Heinrich Brandler. Eher im besten wie im tragischen Sinn ein Mann seiner Klasse für-sich.
Wo und wann spielt Barons Roman? Eine fast gegenwärtige Jugend (70er Jahre ff.) in der Arbeiterklasse, soziologisch gesprochen in der Unterschicht, der Vater ist Möbelpacker, gewalttätig und Alkoholiker.
Politisches Klassenbewusstsein ist hier nur mehr als Verfallssymptom erkennbar, im besten Sinne im Vertrauen auf Oskar Lafontaine. Aber das ist zu wenig.
Derartige Milieuschilderungen haben in letzter Zeit Konjunktur, man denke an Didier Eribon oder Édouard Louis, und sie zeigen zurecht die im Dunkeln. Nur zeigen sie diese ohne das (mögliche) Licht, das aus der Zukunft zu uns strahlt, und ein klein wenig aus der Vergangenheit. Anders geschrieben zeigen sie, was aus der Arbeiterklasse oder Teilen derselben Mitte/Ende des letzten Jahrhunderts wurde. Ohne eine sozialistische/kommunistische (Selbst-)Organisation und Perspektive verkommt das Leben, und was Baron schreibt, kommt einem manchmal noch hoffnungsloser vor als bei Gorki. Die einzige Perspektive scheint – ausnahmsweise – der soziale Aufstieg, gegen alle Widerstände, die nicht nur von Oben kommen.
Dabei bleibt die Perspektive immanent, Anklage gegen die herrschende Ideologie, die manche ernster nehmen, als sie gemeint ist.
Auch wenn ich Sympathien habe für Wagenknechts und andere Vorstellungen (z. B. Häring) einer sozialen Marktwirtschaft, glaube ich, dieser Zug ist abgefahren, wir werden weder zurück noch vorwärts zu einer gerechten oder gerechteren Marktwirtschaft kommen. Was selbstverständlich nicht heißen darf, dass es hier nichts zu lernen gebe. Und: es kann nicht schaden die bürgerliche Ideologie ab und zu mit ihrer Wirklichkeit zu konfrontieren.
Wie entsteht Klassenbewusstsein, welche Rolle können Intellektuelle hier und heute spielen? Die rücksichtslose Kritik am Bestehenden, den Konflikt mit den vorhandenen Mächten nicht scheuen, ohne die Dialektik von Strategie und Taktik zu vergessen. Aber das ist mehr als ich im Moment sehen kann. Anbiederung und Opportunismus fast überall, eher protestieren nachdenkliche Menschen ohne Klassenbezug.*
Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse, Berlin 2021, 288 S., 12 €.
Becker, Jens: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001, 440 S., 38 €.
*Passend in diese Zeit: »Recht früh erkannte Brandler (…), dass man das kleinbürgerliche Protestpotenzial nur durch eine stringente, vorwärtsgerichtete Strategie an sich binden könne. Ansonsten drohte es zu einer Gefahr für die Arbeiterbewegung zu werden, weil es zur reaktionären oder faschistischen Konterrevolution überlaufen könne.«