2,7 Millionen Menschen waren in Deutschland im April 2021 offiziell als arbeitslos registriert, eine Million mehr als Ende 1980. Damals hatte der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul A. Samuelson (1915-2009), die Arbeitslosigkeit »das zentrale Problem des modernen Kapitalismus« genannt. Wie erklärt John Maynard Keynes (1883-1946), der als »Jahrhundertökonom« gilt und den Bertrand Russel (1872-1970) den klügsten Menschen nannte, den er je getroffen habe, das soziale Übel?
Keynes, der Baron von Tilton mit Sitz im Oberhaus des britischen Parlaments, dem House of Lords, war nicht nur Theoretiker. Seit 1906, als er einen Job im britischen Indienministerium übernahm, war er zugleich Wirtschaftspolitiker im Dienst des britischen Imperialismus gewesen. Er erhielt einen Posten im Schatzamt – dem Finanzministerium –, fand Zeit, eine große Versicherung zu leiten, war Mitglied des Direktoriums der Bank von England, die damals als das Weltfinanzzentrum Nr. 1 galt, gab eine bekannte Wirtschaftszeitschrift heraus, sammelte Kunstgegenstände und seltene Bücher, förderte Theater und Ballett. Er war ein Ökonom, der es wie nur wenige seines Berufes, etwa David Ricardo, verstand, durch geschicktes und glückliches Spekulieren Geld zu machen. Und er war vom Scheitel bis zur Sohle »bürgerlich« und Antikommunist. Glücklicherweise seien die kommunistischen Wirtschaftslehren »der menschlichen Natur so entgegengesetzt, dass sie weder Missionare noch Armeen finanzieren können und sicher mit einer Niederlage enden werden«. Deshalb werde er, der »gebildete, anständige und gescheite Sohn des europäischen Westens«, niemals »das klobige Proletariat über Bürgertum und Intelligentia« emporheben und damit »den Schlamm dem Fisch vorziehen«. Ohne die bedeutende gesellschaftliche Stellung und seine weitreichenden Verbindungen hätten Keynes’ Auffassungen vermutlich keinen großen Widerhall erfahren. Auch andere haben Kluges gesagt, tiefgründigere Einsichten gewonnen und ausgesprochen, was die Zeit erforderte, ohne Aufmerksamkeit zu wecken. Sein Hauptwerk, »Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes«, das 1936 erschien, löste wie Samuelson schrieb, eine »Revolution« im ökonomischen Denken aus. Sie packte »die meisten Ökonomen unter 35 Jahren mit der unerwarteten Heftigkeit einer Seuche, die zum ersten Mal unter einem einsamen Stamm von Südseeinsulanern ausbricht und ihre Reihen dezimiert. Ökonomen über 50 besaßen eine totale Immunität gegen diese Krankheit«.
Keynes’ Lehre – die größte Umwälzung im ökonomischen Denken des vergangenen Jahrhunderts? Bahnbrechend, gar eine Revolution, wie nicht nur Samuelson im Überschwang der Begeisterung behauptete, ist die keynesianische Theorie keineswegs. Die Weltwirtschaftskrise 1929-1933 erschütterte den Glauben an die naturwüchsige Harmonie des Wirtschaftsganzen. Die bis dahin vorherrschende Ansicht, dass die immanenten Kräfte der Ökonomie zu einer Selbstheilung jeder Krise führten, musste unter dem Eindruck eines weltweiten Chaos fallengelassen werden. Die Täuschung, dass die Arbeitslosigkeit kein Dauerproblem sei, war nicht mehr aufrechtzuerhalten. Für die bürgerliche ökonomische Theorie war es unmöglich geworden, sich herablassend über die ihr entgegengesetzte Realität hinwegzusetzen. Sie hatte stets die Existenz einer »unfreiwilligen« Arbeitslosigkeit hartnäckig bestritten. Keynes ist nicht der Erste, der sie erklärt – die ökonomischen Schriften von Marx sind schließlich schon über 70 Jahre alt –, er ist aber der Erste, der sie im bürgerlichen Sinne zu deuten versucht und damit das nach Profit lechzende Kapital aus der Schusslinie nimmt. Er präsentiert auf eine längst überfällige Frage eine Antwort, mit der das Kapital gut leben kann. Keynes war der Meinung, dass für die Arbeiter nur wichtig sei, welchen Nominallohn (Geldlohn) sie erhalten, weniger bedeutsam aber, was sie sich dafür kaufen können (Reallohn). »Unfreiwillig« arbeitslos seien jene Arbeiter, die bei einem geringen Anstieg der Konsumgüterpreise im Verhältnis zum Nominallohn wieder eine Anstellung erhielten. Sie orientierten sich an den Nominallöhnen. Die seien hoch genug, um eine Arbeit nachzusuchen. Sind aber gleichzeitig die Preise zu niedrig – die Reallöhne also zu hoch –, würden die Kapitalisten sie nicht einstellen. Weshalb also suchten Männer und Frauen vergeblich einen Arbeitsplatz? Die Antwort: der Reallohn sei zu hoch und deshalb die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften zu gering. Deshalb gebe es nur einen Weg zu einer höheren Beschäftigung: Man müsse die Reallöhne senken. Arbeitslosigkeit ließe sich nur überwinden, wenn die Preise stiegen. Das tangiere nicht die Nominallöhne und beeinträchtige damit auch nicht die Illusion der Arbeiter und Angestellten, das gleiche oder mehr zu verdienen.
Die Akzeptanz einer »unfreiwilligen« Arbeitslosigkeit »entartet«, so der Ökonom Schmölders zutreffend, bei Keynes »in dem zynischen Vorschlag, die Geldillusion« vieler Arbeitnehmer »zur unmerklichen Reallohnsenkung zu missbrauchen«. Der »bahnbrechende«, scheinbar originelle Kerngedanke der Keynes‘schen Vorschläge beruht auf der Änderung des »Geldwertes«, um dadurch den realen Lohn zu verringern, während es so aussieht, als ob das nicht geschieht. Keynes gibt einer »nachgiebigen« Geldpolitik – die Inflation erzeugen solle – gegenüber einer »nachgiebigen« Lohnpolitik den Vorzug, weil er erstere für leichter durchsetzbar hielt. Die »größte Umwälzung« im ökonomischen Denken besteht darin, dass Keynes den Nominallohn durch den Reallohn ersetzt. Er teilt den Irrglauben der neoklassischen Ökonomie, zu hohe Löhne seien die Ursache für die Arbeitslosigkeit vieler. Nur eben nicht der Lohn schlechthin oder der Nominallohn, sondern der Reallohn. Was für eine revolutionäre, kühne Neuerung!
Wenn wie in jüngerer Zeit viele linke Ökonomen mit Keynes sympathisieren, sollten sie daran denken, dass dessen wirtschaftspolitische Vorschläge keineswegs arbeiterfreundlich sind. Eine Hebung der Massenkaufkraft wird von ihm abgelehnt, weil sie auf einen Anstieg der realen Löhne hinausliefe, wo es doch darauf ankäme, sie zu senken. Keynes ist sich des Widerspruchs seiner Argumentation bewusst. Sinkende Reallöhne seien für die Kapitalisten zwar ein Anreiz, mehr Arbeitskräfte zu beschäftigen, sie minderten aber auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und stünden so einer höheren Beschäftigung im Wege. Die private Wirtschaft sei sich selbst im Weg. Jetzt bedürfe es des Staates als Retter in der Not. Er solle die Nachfragelücke durch kreditfinanzierte Ausgaben schließen, und sei es durch irgendwelchen Blödsinn. Wenn »das Schatzamt alte Flaschen mit Banknoten (fülle) und sie in geeigneten Tiefen in verlassenen Kohlebergwerken vergraben würde, sie dann bis zur Oberfläche mit städtischem Kehricht füllen würde und es dem privaten Unternehmergeist nach dem erprobten Grundsätzen des Laissez-faire überlassen würde, die Noten wieder auszugraben (…), brauchte es keine Arbeitslosigkeit mehr zu geben, und mit Hilfe der Rückwirkungen würde das Realeinkommen des Gemeinwesens wie auch sein Kapitalreichtum wahrscheinlich viel größer als jetzt werden. Es wäre zwar viel vernünftiger, Häuser und dergleichen zu bauen, aber wenn dem politische und praktische Schwierigkeiten im Wege stehen, wäre das obige besser als gar nichts.« An Keynes’ Auffassung über die ökonomische Funktion des Staates knüpft der Linkskeynesianismus an, der den Staat verpflichten will, in die soziale Infrastruktur zu investieren, mit sozialen Leistungen den Armen zu helfen, Gesundheitswesen, Schulen, Kultur, Sport usw. zu finanzieren. Aber auch die Erhöhung der Rüstungsausgaben ließe sich auf diese Weise keynesianisch rechtfertigen.
Vielleicht hat Keynes den »Yankee an König Artus‘ Hof« gelesen und wurde durch das köstliche 33. Kapitel des Buches angeregt, die »Politische Ökonomie des 6. Jahrhunderts«. Mark Twain schildert darin, wie sich der Yankee vergeblich bemüht, dem wohlhabenden Dorfschmied Dowley zu erklären, dass es nicht auf die Lohnsumme ankommt. Wichtig ist, was und wieviel man sich mit dem Geld kaufen kann. »Endlich sprach Dowley – und verriet die Tatsache, dass er noch immer nicht von seinem tiefverwurzelten und verhärteten Aberglauben losgekommen war. Ein wenig zögernd sagt er: Aber – aber – du musst doch zugeben, dass zwei Mill pro Tag besser sind als nur einer!«
Die Arbeiter hängen den Illusionen eines Dowley nicht mehr nach. Sie wehren sich gegen die Senkung der Nominallöhne und gegen die der Reallöhne. Der Unterschied besteht nur darin, dass ein geringer Rückgang der Reallöhne oft nicht sofort gespürt wird und die Arbeiter weniger organisatorische Möglichkeiten besitzen, gegen steigende Preise als gegen sinkende Löhne vorzugehen. Das ändert nichts daran, dass neben der Produktivität auch die Entwicklung der Lebenshaltungskosten eine wichtige Rolle im Kampf der Gewerkschaften um höhere, angemessene Löhne spielt. Ein Grund für die bürgerlichen Medien und die Statistik, die Inflation niedriger auszuweisen als sie ist.