Wie heute üblich, geschieht es nun auch beim Lesen: Es gilt, den AGBs zuzustimmen. Thomas Rackwitz stellt sie seinem neuen Gedichtband voran. Natürlich in lyrischer Form. Und man sollte sie nicht überlesen oder ihnen mechanisch zustimmen, wie wir es im Alltag mit den ABGs meistens tun. Zwei Passus schienen besonders bedenkenswert: Wer sich weigert, »diese zeile zu lesen«, bekennt sich schuldig, »ein verräter des gedichts zu sein«, während man mit dem Lesen dem Gedicht »ein Aufenthaltsrecht im Kopf« gewährt.
Wer keine Gedichte mehr lernen muss, bewilligt in der Tat das Bleiberecht. Es sei betont, dass man einigen Gedichten dieses begeistert einräumt, manche scheinen sich selbst dagegen zu sperren, und wenigen will ich es nicht zugestehen. Drei sind es, die ich sogar auswendig lernen würde, damit sie bei mir sind und bleiben. Nämlich erstens: »DIE NACHT IN DER VATER SICH ERHÄNGTE«, zweitens »BLANKENBURGER WILDNIS« und drittens »DER BESUCHER«. Das erste ist wie eine Erzählung in Gedichtform, sprachkarge Poesie von hoher Güte und Intensität. Man müsste schon recht hartgesotten sein, um davon unberührt zu bleiben. Das zweite ist »rackwitztypisch«, es kommt flachsend daher, und es ist doch von bitterem Ernst: »in blankenburg beginnt der wilde westen. statt pferde werden löwen aufgesattelt.« Die damalige Kreisstadt wurde 1945 der britischen Besatzungszone zugeordnet, dann auf Grund der geografischen Gegebenheiten doch der sowjetischen zugeschlagen. Die welfische Vergangenheit im Zeichen des Löwen – »die löwenkacke stinkt beträchtlich« – ist allgegenwärtig. Als jemand, der öfter in der Stadt zu Gast ist, fand ich sie trefflich beschrieben: »die bürgerwehren patrouillieren nächtlich«. Nicht jedem wird dies behagen, aber eigentlich sollte man froh sein, dass solche Befunde ausgesprochen werden, siehe die eingangs erwähnten AGBs. Das dritte Werk mit Anspruch auf Bleiberecht ist DER BESUCHER. Der ist übrigens der Tod, der seinen Gastgeber um schwarzen Tee bittet und das nur dato geltende Angebot macht: »gebrandet und unique dahinzuscheiden / und somit auch im totenreich zu glänzen«. Hölderlins Stiftungsgedanken, das Bleibende betreffend, sind unmodern geworden, »Branding« ist das Gebot der Stunde beim Abgang aus dieser Welt.
Nicht immer gelingt in diesem Band die Ironie so schneidend und köstlich zugleich. Es gibt auch Gedichte, die Selbstverständlichkeiten in Versform sind, man nickt, sagt: »Nu, ja.« Man schüttelt auch den Kopf und murmelt: »Nu, nee!« Man kann aber auch auf Seite 87 NACH DEN VOBILDERN suchen, vielleicht als Zeitvertreib – wer findet alle Namen in den nicht uneitlen Anspielungen? Da »rackwitzt« es gewaltig, und manchmal klingeln die Wörter dahin.
Aber: Mitteilungen aus unserer Gegenwart, aus einem Leben, das viele Leben wie durch Osmose aufnimmt, die feinste Signale lyrisch verfestigen – man liest sie in diesem Buch. Darum sollte man es lesen, auch, weil es ein Kompendium der uns so nötigen Fantasie ist, beim Umgang mit dem Schreckenswort »Klimawandel« etwa. Und mehr noch als die ABGs soll gelten: »heb dir noch einen vers auf für den heimweg«. Es ist der letzte Satz des Buches – und er möge betreffen auch die Leute, die sonst vielleicht »verräter des gedichts« sind.
Thomas Rackwitz: in meinem garten steht ein blauer eisberg. Gedichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022. 89 S., 12 €.