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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kein Verrat am Gedicht

Wie heu­te üblich, geschieht es nun auch beim Lesen: Es gilt, den AGBs zuzu­stim­men. Tho­mas Rack­witz stellt sie sei­nem neu­en Gedicht­band vor­an. Natür­lich in lyri­scher Form. Und man soll­te sie nicht über­le­sen oder ihnen mecha­nisch zustim­men, wie wir es im All­tag mit den ABGs mei­stens tun. Zwei Pas­sus schie­nen beson­ders beden­kens­wert: Wer sich wei­gert, »die­se zei­le zu lesen«, bekennt sich schul­dig, »ein ver­rä­ter des gedichts zu sein«, wäh­rend man mit dem Lesen dem Gedicht »ein Auf­ent­halts­recht im Kopf« gewährt.

Wer kei­ne Gedich­te mehr ler­nen muss, bewil­ligt in der Tat das Blei­be­recht. Es sei betont, dass man eini­gen Gedich­ten die­ses begei­stert ein­räumt, man­che schei­nen sich selbst dage­gen zu sper­ren, und weni­gen will ich es nicht zuge­ste­hen. Drei sind es, die ich sogar aus­wen­dig ler­nen wür­de, damit sie bei mir sind und blei­ben. Näm­lich erstens: »DIE NACHT IN DER VATER SICH ERHÄNGTE«, zwei­tens »BLANKENBURGER WILDNIS« und drit­tens »DER BESUCHER«. Das erste ist wie eine Erzäh­lung in Gedicht­form, sprach­kar­ge Poe­sie von hoher Güte und Inten­si­tät. Man müss­te schon recht hart­ge­sot­ten sein, um davon unbe­rührt zu blei­ben. Das zwei­te ist »rack­witz­ty­pisch«, es kommt flach­send daher, und es ist doch von bit­te­rem Ernst: »in blan­ken­burg beginnt der wil­de westen. statt pfer­de wer­den löwen auf­ge­sat­telt.« Die dama­li­ge Kreis­stadt wur­de 1945 der bri­ti­schen Besat­zungs­zo­ne zuge­ord­net, dann auf Grund der geo­gra­fi­schen Gege­ben­hei­ten doch der sowje­ti­schen zuge­schla­gen. Die wel­fi­sche Ver­gan­gen­heit im Zei­chen des Löwen – »die löwen­kacke stinkt beträcht­lich« – ist all­ge­gen­wär­tig. Als jemand, der öfter in der Stadt zu Gast ist, fand ich sie treff­lich beschrie­ben: »die bür­ger­weh­ren patrouil­lie­ren nächt­lich«. Nicht jedem wird dies beha­gen, aber eigent­lich soll­te man froh sein, dass sol­che Befun­de aus­ge­spro­chen wer­den, sie­he die ein­gangs erwähn­ten AGBs. Das drit­te Werk mit Anspruch auf Blei­be­recht ist DER BESUCHER. Der ist übri­gens der Tod, der sei­nen Gast­ge­ber um schwar­zen Tee bit­tet und das nur dato gel­ten­de Ange­bot macht: »gebran­det und uni­que dahin­zu­schei­den /​ und somit auch im toten­reich zu glän­zen«. Höl­der­lins Stif­tungs­ge­dan­ken, das Blei­ben­de betref­fend, sind unmo­dern gewor­den, »Bran­ding« ist das Gebot der Stun­de beim Abgang aus die­ser Welt.

Nicht immer gelingt in die­sem Band die Iro­nie so schnei­dend und köst­lich zugleich. Es gibt auch Gedich­te, die Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten in Vers­form sind, man nickt, sagt: »Nu, ja.« Man schüt­telt auch den Kopf und mur­melt: »Nu, nee!« Man kann aber auch auf Sei­te 87 NACH DEN VOBILDERN suchen, viel­leicht als Zeit­ver­treib – wer fin­det alle Namen in den nicht uneit­len Anspie­lun­gen? Da »rack­witzt« es gewal­tig, und manch­mal klin­geln die Wör­ter dahin.

Aber: Mit­tei­lun­gen aus unse­rer Gegen­wart, aus einem Leben, das vie­le Leben wie durch Osmo­se auf­nimmt, die fein­ste Signa­le lyrisch ver­fe­sti­gen – man liest sie in die­sem Buch. Dar­um soll­te man es lesen, auch, weil es ein Kom­pen­di­um der uns so nöti­gen Fan­ta­sie ist, beim Umgang mit dem Schreckens­wort »Kli­ma­wan­del« etwa. Und mehr noch als die ABGs soll gel­ten: »heb dir noch einen vers auf für den heim­weg«. Es ist der letz­te Satz des Buches – und er möge betref­fen auch die Leu­te, die sonst viel­leicht »ver­rä­ter des gedichts« sind.

 Tho­mas Rack­witz: in mei­nem gar­ten steht ein blau­er eis­berg. Gedich­te. Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Hal­le 2022. 89 S., 12 €.