Was wir gemeinhin als »Nahostkonflikt« bezeichnen, ist schlicht ein großes Verbrechen. Es wird treffender mit Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung, Apartheid und permanentem Krieg umschrieben. Wem aber bei diesen Begriffen eher der Vorwurf der Einseitigkeit und des Antisemitismus als das Eingeständnis der verweigerten Mitverantwortung in den Sinn kommt, der lese das Buch von Helga Baumgarten. Die Autorin war von 1993 bis 2020 Dozentin an der Birzeit Universität und kennt die historische Entwicklung und aktuelle Zuspitzung dieses langen Krieges aus ihrer langjährigen Arbeit vor Ort. Es gibt immer nur eine Wahrheit, aber stets mehrere Perspektiven und Interpretationen, die je für sich den Anspruch auf Wahrheit erheben. Die Perspektive dieses Buches ist die der Palästinenser, die die Autorin authentisch vertreten kann. Sie ist daher unbeschwert von den Lasten der deutschen Erinnerungskultur, die erst jede Aussage in den Untiefen unserer Geschichte prüfen muss, bevor sie sie in die Öffentlichkeit entlässt.
Die Darstellung geht in fünf Kapiteln den Weg der Auseinandersetzung zwischen Juden und Palästinensern von der Gründung des israelischen Staates 1948 über die Okkupation des Westjordanlandes und des Gazastreifens 1967, die erste Intifada 1987 und den Oslo-Prozess 2003, die Wahlen zwischen 2004 und 2006 mit dem Aufstieg der Hamas bis zum anschließenden langen Krieg gegen Gaza bis heute. Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen für die Palästinenserinnen und Palästinenser so bitteren Weg, die unstreitigen Fakten der Besatzung, von dem Filter des »Existenzrechts Israels« und der »besonderen Verantwortung Deutschlands« zu befreien und als das zu zeigen, was sie sind: permanente Gewalt und Krieg. Die Gewalt der Palästinenser, die Selbstmordattentate und Raketen, sind immer nur die Antwort auf diese allgegenwärtige, ständig provozierende Gewalt der Besatzung.
So im Mai 2021, mit dem das Buch beginnt. Die willkürliche Schließung des Damaskus-Tores, die konstanten Provokationen auf dem Haram-Ash-Scharif während des Ramadans und die drohende Vertreibung palästinensischer Familien im Stadtteil Scheikh Jarrah waren der Anfang. Dadurch eskalierten die Spannungen und veranlassten schließlich die Hamas, Israel ein Ultimatum zu stellen, die Gewalt zu stoppen, den Haram zu verlassen und die Vertreibung der Familien zu unterlassen. Erst als die Regierung das Ultimatum zurückwies, wurde am 10. Mai aus Gaza geschossen. Die Reaktion war furchtbar und absolut unverhältnismäßig. Ohne Rücksicht auf Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen und Moscheen wurde Gaza wieder in ein Trümmerfeld verwandelt: über 250 Tote, fast 200 Verletzte. Der maßlose Angriff basierte auf der sogenannten Dahiya-Doktrin, die General Eisenkot im Libanon-Krieg entwickelt hatte, und seitdem die Exzesse aller Kriege seit 2008/2009 bestimmte. Sie fordert die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt und die Zerstörung der zivilen Infrastruktur, um ihre Nutzung durch Militante zu verhindern. In Verbindung mit der seit 1986 gültigen sog. Hannibal-Direktive, die es den israelischen Soldaten erlaubt, bei einem Verdacht auf Entführung oder Tötung eines Soldaten alles rigoros zu zerstören, was im Wege steht, und jeden zu erschießen, der sich ihnen entgegenstellt, ist dies ein System, welches nicht nur die Autorin zurecht als Staatsterror bezeichnet.
Bereits Jeff Halper hat in Counterpunch 2014 darauf hingewiesen, dass in all diesen Kriegen das Völkerrecht nicht nur keine Rolle spielt, sondern bewusst verletzt wird, und die Autorin betont es noch einmal. Die Palästinenser werden gleichsam als Versuchskaninchen der »Anpassung« des Völkerrechts an die israelische Kriegspraxis und der Befreiung von allen Restriktionen des humanitären Völkerrechts benutzt, um gleichzeitig jeglichen Widerstand zu delegitimieren. Diese Art des »lawfare« umschreibt David Reisner in der Rechtsabteilung der israelischen Armee, den die Autorin zitiert: »Wenn man etwas lange genug macht, wird die Welt es schließlich akzeptieren. Internationales Recht heute basiert darauf, dass etwas, was heute verboten ist, morgen erlaubt ist, wenn es nur genug Staaten gemacht haben. (…) Internationales Recht entwickelt sich durch Verletzungen eben dieses Rechtes. Wir erfanden die These von den ›gezielten Tötungen‹, und wir mussten sie durchsetzen. Acht Jahr später steht sie im Zentrum dessen, was als legal akzeptiert ist. (…) Je öfter westliche Staaten die Prinzipien, die in Israel entwickelt wurden, selbst in ihren nicht-traditionellen Konflikten in Orten wie in Afghanistan oder im Irak anwenden, desto größer ist die Chance, dass diese Prinzipien ein wertvoller Teil internationalen Rechts werden« (S. 162). Abgesehen davon, dass die »gezielten Tötungen« absolut nicht als legal akzeptiert sind, ist diese zynische Variante des israelischen »lawfares« nur ein Beispiel des Völkerrechtsnihilismus, der die gesamte Besatzungs- und Kriegspolitik gegen die Palästinenser kennzeichnet.
Heute zweifelt niemand mehr daran, dass der Oslo-Prozess gescheitert ist, und die Autorin zeigt auf, dass dies von Anfang an in den Verträgen angelegt war. Eine Anerkennung des palästinensischen Rechts auf Selbstbestimmung fehlt ebenso wie die Anerkennung eines Rechts auf einen eigenen Staat. Ein palästinensischer Staat wird mit keinem Wort erwähnt, ebenso wenig eine Perspektive für die Beendigung der Besatzung. Nur eine Interim-Selbstregierungsautorität wird den Palästinensern zugestanden, bis nach fünf Jahren eine permanente Lösung gefunden werden sollte. Was daraus wurde, war vorauszusehen, denn während der Jahre der Verhandlungen ging der Bau der israelischen Siedlungen und der Landraub unvermindert weiter. Dazu hinterließ Yasir Arafat in einem Brief an Yitzak Rabin der PLO eine schwere Hypothek, die den Zerfall der politischen Autorität seines Nachfolgers Mahmut Abbas und den Aufstieg der Hamas wesentlich mitbestimmte: »Die PLO gibt den Terrorismus und andere Akte der Gewalt auf und übernimmt Verantwortung über alle Elemente und Personen in der PLO, um zu gewährleisten, dass sich diese an die eingegangenen Verpflichtungen der PLO halten, um jede Verletzung dieser Abmachungen zu verhindern, und zur Disziplinierung aller, die dem zuwiderhandeln« (S. 94). Er bot damit den Israelis die PLO als Polizeitruppe für die Sicherheit ihrer Besatzungsmacht an und bereitete den Weg für die Kooperation der Geheimdienste auf beiden Seiten, die bis heute anhält.
Seit dem überlegenen Sieg der Hamas über die Fatah in den Lokalwahlen 2004 und dem ebenso klaren Sieg 2006 im Gazastreifen ist die Hamas ein dominanter Faktor in der palästinensischen Politik. Die Autorin hat sich schon in ihren vorangehenden Veröffentlichungen um eine Entdämonisierung der Hamas bemüht, die sich unsere Politik und Medien mit verbissener Sturheit als »radikalislamische Terrorgruppe« vom Hals und aus der politischen Realität halten wollen. Auch in ihrem neuen Buch wird plausibel, weswegen die »ausgezeichnete Arbeit« der Hamas ihr einen solchen Rückhalt nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank verschafft. In den Worten ausländischer Diplomaten: »Die Stadtverwaltungen der Hamas funktionieren sehr gut, die Arbeitsethik hat sich dramatisch verbessert. Bürgermeister sprechen die Bürger an und kümmern sich um deren Belange und Sorgen (…). Und sie versuchen, effiziente Dienstleistungen anzubieten« (S. 114). Offensichtlich braucht der irrationale Israel-Diskurs der deutschen Staatsräson ein derartiges irrationales Feindbild, welches in den siebziger und achtziger Jahren die Fatah, danach die PLO und jetzt die Hamas liefern muss.
Der »Widerstand« im Titel des Buches nimmt im Schlusskapitel nur einen schmalen Raum ein. Was gibt es auch zu berichten? Demonstrationen gegen das »Abbas-Regime« in Ramallah. Die BDS-Bewegung, die inzwischen von der gesamten palästinensischen Zivilgesellschaft unterstützt wird und am 18. Mai 2021 zum ersten Mal seit 1948 zu einem das ganze historische Palästina umfassenden Streik geführt hat. Ihr »Manifest für Würde und Hoffnung – Intifada der Einheit« signalisiert zumindest, dass »die letzten paar Monate eine neue palästinensische Identität geschmiedet« haben, wie es Haaretz formuliert. Das macht zwar den nächsten heißen Krieg wahrscheinlicher als den Rückzug der israelischen Truppen aus den widerrechtlich besetzten Gebieten. Aber es zeigt auch, dass Israel nicht mit der Resignation der unterdrückten Bevölkerung rechnen kann, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen wird.
»Kein Frieden für Palästina« erinnert im Titel zwar an das Standardwerk »Kein Frieden um Israel« von Walter Hollstein im selben Verlag. Es ist aber von ganz anderer Art als dieses unerreichte Kompendium des Palästina-Israel-Konflikts. Es ist eine große Flugschrift gegen das Unrecht, welches der arabischen Bevölkerung seit der Gründung des jüdischen Staates und der Expansion seiner Siedlungen angetan wird. Es ist eine Streitschrift gegen die herrschende Berichterstattung und ihre verzerrende Historiografie. Es ist aktuell, klar und ohne Windungen, kenntnisreich und gut zu lesen. Wer über den »Nahostkonflikt« redet, sollte es lesen.
Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina: Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand, ProMedia-Verlagsgesellschaft, Wien 2021, 191 S., 19,90 €.